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Produktdetails

Verlag
Neckarufer-Verlag Stuttgart
Erschienen
2019
Sprache
Deutsch
Seiten
423
Infos
423 Seiten
18 cm x 11.5 cm
ISBN
978-3-00-041523-4

Hauptbeschreibung

IIm Spätsommer 2012 versetzen zwei Serienkiller Stuttgart in Angst und Schrecken. Die Anatomie der Morde könnte unterschiedlicher kaum sein. Die Ermittler Kurt Schockenried, Dennis Rathvan und Tatjana von Senden von der Kriminalpolizei Stuttgart, erhalten Unterstützung durch die Forensische Psychologin und Profilerin Jessica Dornfeld vom LKA Baden-Württemberg. Während Kurt um seinen Ruf, Dennis mit seinem unzuverlässigen Mitbewohner und den schwäbischen Nachbarn, Tatjana mit sich selbst und gegen die großen und kleinen Ängste des Alltags, und alle zusammen gegen einen merkwürdigen Geruch im Polizeipräsidium kämpfen, verfolgen sie blutige Spuren durch die ganze Stadt. Vom Monte Scherbelino über das Große Haus zum Bismarckturm und vom Drei-Farben-Haus in der Innenstadt über Botnang in den Klingenbachpark nach Stuttgart-Ost. Über das Stuttgarter Rathaus führen die Ermittlungen unter anderem zu einer Dating-Agentur in Heslach und auf einen Friedhof nach Berlin-Charlottenburg. Viele merkwürdige und gleichermaßen amüsante Begebenheiten sind ständige Begleiter der drei Kommissare.
Die Lösung des Falles ist völlig überraschend und nicht vorhersehbar. In einem spannenden Finale bleiben Verluste jedoch nicht aus.

Kurztext / Annotation

Im Spätsommer 2012 versetzen zwei Serienkiller Stuttgart in Angst und Schrecken. Die Anatomie der Morde könnte unterschiedlicher kaum sein. Die Ermittler Kurt Schockenried, Dennis Rathvan und Tatjana von Senden, von der Kriminalpolizei Stuttgart, erhalten Unterstützung durch die Psychologin und Profilerin Jessica Dornfeld vom LKA Baden-Württemberg. Während Kurt um seinen Ruf, Dennis mit seinem unzuverlässigen Mitbewohner und seinen konservativen schwäbischen Nachbarn, Tatjana mit sich selbst gegen die großen und kleinen Ängste des Alltags, und alle zusammen gegen einen merkwürdigen Geruch im Polizeipräsidium kämpfen, verfolgen sie Spuren durch die ganze Stadt. Vom Monte Scherbelino über das Große Haus zum Bismarckturm und vom Drei-Farben-Haus in der Innenstadt über Botnang in den Klingenbachpark nach Stuttgart-Ost. Über das Stuttgarter Rathaus führen die Ermittlungen unter anderem zu einer Dating-Agentur und auf einen Friedhof nach Berlin-Charlottenburg. Viele merkwürdige und gleichermaßen amüsante Begebenheiten sind ständige Begleiter der drei Kommissare.
Die Lösung des Falles ist völlig überraschend und nicht vorhersehbar. In einem spannenden Finale bleiben Verluste nicht aus.

Erstes Kapitel

Kapitel 2: „Wo bleibst du denn?“, meldete sich Dennis Rathvan etwas schroff, nachdem sein Handy in der Hosentasche vibriert hatte, und er beim Blick auf das Display erkannte, dass der Anruf vom Ersten Kriminalhauptkommissar Kurt Schockenried kam.
„Wir sind alle schon hier oben und warten auf dich“, fügte er leicht vorwurfsvoll hinzu.
„Was soll das heißen, wo bleibst du denn? Wie soll ich denn bitteschön da rauf kommen, wenn so ein Volltrottel von einem Beamten wie ein Bahnwärter an der Schranke sitzt und mich nicht durchfahren lässt? Ist Kriminalrat Scheible bei euch? Falls ja, dann soll er diesem Depp klar machen, dass er einen Hauptkommissar bei der Ausführung seiner Arbeit behindert, indem er ihn nicht zum Tatort fahren lässt. Und sollte er das weiterhin tun, dann sorge ich höchstpersönlich dafür, dass er für den Rest seines Lebens am Gebhard-Müller-Platz den Verkehr regelt. Außerdem sind gar nicht ALLE da oben, denn ich bin schließlich immer noch hier unten“, blaffte Schockenried verärgert zurück.
Kaum hatte er ausgesprochen, legte er auch schon auf, und Dennis Rathvan vernahm nur noch ein monotones Tuten. Nach einem kurzen Gespräch mit dem Kriminalrat Hans-Dieter Scheible, der aufgrund der Besonderheit der Begebenheiten ausnahmsweise ebenfalls vor Ort war, nutzte Dennis die Rückruffunktion seines Handys. In der Gewissheit, Kurt Schockenried würde einen noch dickeren Hals bekommen als er ohnehin schon hatte, teilte er ihm kurz und knapp mit: „Um es kurz zu machen, Kurt: Ich habe mit Scheible gesprochen, der den Kollegen der Schutzpolizei über die Maßen lobte, und ihn als einen der tüchtigsten Nachwuchskräfte bezeichnete. O-Ton: Gut, dass er sich nicht so einfach von Schockenried einschüchtern ließ … von dieser Sorte Beamten sollte es mehr geben.“
„Wie bitte, mehr hat er nicht gesagt?“, hakte Schockenried nach.
„Äh … nein“, kam Dennis ein wenig ins Stottern und weiter: „Er sagte außerdem, dass du, wie alle anderen auch, gefälligst zu Fuß hier herauf kommen sollst. Es sind weiterhin keinerlei Fahrzeuge erlaubt. Im Übrigen wollte ich dir schon die ganze Zeit über die Info geben, dass hier oben nicht der Tatort, sondern lediglich der Fundort der Leiche ist.“
Damit war das Gespräch abermals beendet und Kurt konnte es kaum fassen: „Sind die denn jetzt alle total verrückt geworden?“, schimpfte er vor sich hin.
Und was um alles in der Welt machte überhaupt der Kriminalrat persönlich an einem Leichenfundort und noch dazu am frühen Sonntagmorgen? Am meisten ärgerte ihn aber, dass er jetzt tatsächlich den ganzen Weg hinauf bis zum Gipfel des „Monte Scherbelino“ zu Fuß gehen musste. Das waren mehrere hundert Meter, und obendrein regnete es wie aus Kübeln. Bis oben hin zugeknöpft, und den Kragen seines dunkelbraunen Parkas nach oben geschlagen, machte sich Kurt Schockenried missmutig auf den Weg. Wortlos schritt er an besagtem Kollegen der Schutzpolizei vorbei, und warf ihm einen verächtlichen Blick zu. Der sollte ihm bloß nochmal in die Quere kommen …

***

Tatjana von Senden musste sich setzen, und wandte sich einen Moment vom Geschehen ab. Sie nahm auf einer nassen Holzbank Platz, und ließ den Blick über das verregnete Stuttgart schweifen. Noch nie hatte sie die Stadt aus dieser Perspektive gesehen und war etwas orientierungslos. Selbst größere Gebäudekomplexe konnte sie nicht eindeutig identifizieren oder zuordnen. Das Einzige, das sie zweifelsfrei wiedererkannte, war der Turm des Hauptbahnhofes, auf dem sich der Mercedesstern drehte. Sie sah mitgenommen aus. Dennis Rathvan setzte sich zu ihr, und legte für einen Moment den rechten Arm um ihre Schultern. Es war bis dato der persönlichste Moment, der sich je zwischen den beiden Kollegen abgespielt hatte. Tatjana war vierunddreißig Jahre alt und damit drei Jahre jünger als Dennis. Seit etwas mehr als einem Jahr war sie Kriminaloberkommissarin. Die Beziehung der beiden war rein dienstlich. Privat gab es bisher keinerlei Berührungspunkte, abgesehen von einem alten Fünfgang-Damenfahrrad, das Dennis Tatjana ausgeliehen hatte, als deren Mutter aus Flöha - einem kleinen Ort in der Nähe von Chemnitz, aus dem auch Tatjana stammte - zu Besuch kam. Die Mutter wollte die Stadt mit dem Fahrrad erkunden, weil öffentliche Verkehrsmittel viel zu teuer seien, und es dort ihrer Ansicht nach ohnehin nur komische Menschen gebe, bei denen man sich einen Schnupfen, die Grippe, oder „sonst noch was“ einfangen konnte. Nach einem halben Tag auf dem Drahtesel hatte sie das Vorhaben aber frustriert aufgegeben, weil ihr Hinterteil schmerzte - obgleich Dennis der Ansicht war, dass es ausreichend gepolstert war. Obendrein hatte sie feststellen müssen, dass Stuttgart, aufgrund seiner vielen Berge und Hügel, denkbar ungeeignet für eine Fahrradrundfahrt war. Sie konnte dabei kaum glauben, dass es offenbar Bestrebungen diverser Politiker gab, die Stadt autofrei zu machen. Was letztendlich aus dem Fahrrad wurde, wusste Dennis nicht. Es war ihm aber auch egal, da es ohnehin nur Stauraum in seinem Keller beansprucht hatte. Er war also froh, dass er es los hatte, und der Stauraum im Keller für die Aufbewahrung anderer unnützer Dinge genutzt werden konnte.
Tatjana war eine sehr eigenwillige, ehrgeizige und überkorrekte Person. Ihre Neigung zu zwanghaften Verhaltensweisen war unübersehbar, und die bisweilen schnippische Art stieß nicht allerorts auf uneingeschränktes Verständnis. Die meisten Arbeitskollegen, sowie die Menschen ihres näheren privaten Umfelds, wussten jedoch damit umzugehen. Flapsige Typen wie Dennis, oder der stoffelige Erste Kriminalhauptkommissar Kurt Schockenried, waren ihr ein Dorn im Auge. Da die beiden aber in der Hierarchie über ihr standen, musste sie sich notgedrungen unterordnen. „So etwas habe ich auch noch nie gesehen“, sagte Dennis baff zu seiner Kollegin, als er sich der Szenerie zuwandte.
An dem riesigen Gipfelkreuz baumelte eine männliche Leiche. Der Strick war dabei nicht um den Hals, sondern um den Brustkorb des Toten gebunden. Die Augen waren dunkel, und man hätte fast den Eindruck gewinnen können, sie seien ausgemalt worden, wie bei einer traurigen Porzellanpuppe. Der Kopf der Leiche war um annähernd neunzig Grad nach hinten gekippt, und das linke Bein deutlich länger als das rechte. Zum Regenwetter gesellte sich an diesem Tag auch noch ein unangenehmer Wind, der über den Gipfel des Birkenkopfes hinwegfegte. Der vom Kreuz herabhängende Leichnam baumelte heftig umher und veränderte dabei ständig seine Position. Je nach Stellung der Körperachse, kippte der Kopf immer wieder vor und zurück oder gar seitwärts. So entstand der Eindruck, als tanze der lebloser Körper ekstatisch im Wind. Der Anblick war gespenstisch und absurd zugleich. Auch der starke Regen vermochte die Kleidung des Toten nicht von den Mengen geronnenen Blutes reinzuwaschen, die daran klebten. „Heilige Scheiße, schaut euch nur die Sauerei an. Wer macht denn sowas?“ sagte Kurt Schockenried entsetzt, als er sich Dennis Rathvan und Tatjana von Senden näherte, die sich geradeeben von der Bank erhoben hatten.
Auf Kurts Stirn standen Schweißperlen. Allerdings nicht vor Entsetzen, sondern aufgrund des Fußmarsches von etwa einer viertel Stunde, der ihm offensichtlich ganz schön zugesetzt hatte. Er holte ein kariertes Stofftaschentuch aus der Hosentasche, und wischte sich damit die Stirn ab. Aus der Innentasche des Parkas zog er ein Päckchen HB-Lights, und schaffte es nach mehreren Fehlversuchen endlich mit dem Feuerzeug eine Zigarette anzuzünden. Mürrisches Grummeln begleitete die Prozedur. Nachdem er einen tiefen Zug genommen hatte, stellte er fest: „Jetzt ist mir auch klar, warum hier so ein riesiger Zirkus veranstaltet wird. Aber wenigstens mich hätten sie ja hochfahren lassen können, oder? Dennis, was wissen wir denn bisher schon alles?“ erkundigte er sich, und pustete dabei eine dicke Qualm-Wolke aus.
„Was du weißt, Kurt, kann ich dir nicht sagen, aber wir …“ begann Dennis zu antworten, ehe ihm Tatjana ins Wort fiel.
Mit vorwurfsvollem Unterton entgegnete sie ihrem Vorgesetzten: „Wir, die im Gegensatz zu Ihnen schon seit fast einer Stunde bei diesem Sauwetter hier oben sind, wissen, dass heute Morgen gegen 7.35 Uhr die ersten Gläubigen zur Frühandacht kamen. In der warmen Jahreszeit finden hier für gewöhnlich jeden Sonntag um 8.00 Uhr Andachten der evangelischen Kirchengemeinde statt.“
„Als warm kann man das ja wohl heute nicht bezeichnen“, intervenierte Dennis. Tatjana würdigte ihn, für diese aus ihrer Sicht gleichermaßen überflüssige wie unqualifizierte Zwischenbemerkung, keines Blickes und fuhr fort: „Die Andachten finden wohl unabhängig von der Witterung statt. Die erste Andacht des Jahres ist stets am Ostersonntag, die Letzte ist in diesem Jahr für den neunten September vorgesehen. Durchschnittlich nehmen etwa vierzig Leute an den Gottesdiensten teil. Entdeckt haben die Leiche ein gewisser Martin Schöhler und seine Lebensgefährtin. Sie stehen da drüben und können es kaum erwarten, dass man ihnen etwas mehr Beachtung schenkt. Die finden alles wohl sehr aufregend. Sie haben die Leiche entdeckt, weil sie heute Morgen als Erste hier oben ankamen. Wegen des schlechten Wetters traf ein Großteil der Teilnehmer erst wesentlich später ein. In der Zwischenzeit hatte Herr Schöhler bereits mit dem Handy die Polizei verständigt. Die Kollegen des Kriminaldauerdienstes waren dann gegen 7.52 Uhr hier, und sind - abgesehen von Kriminalrat Scheible - die einzigen, die noch mit dem Auto hoch gekommen sind.“
„Natürlich, der Gartenzwerg ist mit dem Auto gefahren, während ich zu Fuß gehen musste“, brummte Kurt dazwischen, und warf verärgert seine Zigarettenkippe auf den Boden.
Im strömenden Regen machte er sich nicht die Mühe sie auszutreten. Gereizt fuhr Tatjana von Senden fort: „Weder Herrn Schöhler und seiner Lebensgefährtin, noch den Kollegen ist auf dem Weg nach oben jemand begegnet oder etwas aufgefallen. Keiner hat - natürlich abgesehen von einer am Gipfelkreuz baumelnden Leiche - etwas Außergewöhnliches gehört oder gesehen. So weit wir bisher feststellen konnten, gibt es kaum Spuren. Vermutlich hat sie der strömende Regen alle weggespült. Die Arbeiten der Spurensicherung sind allerdings längst noch nicht abgeschlossen, so dass durchaus noch die Hoffnung auf etwas Verwertbares besteht. Das kann allerdings noch Stunden dauern.“
Dann legte sie die Stirn in Falten, und schaute wieder nach oben zum Kreuz: „Bei diesem Anblick ist es kaum zu glauben, dass es keine Spuren geben soll. Man braucht doch sicherlich Hilfsmittel, um jemanden an das Kreuz hoch zu bekommen, oder?“
„Es sei denn, der Kerl ist selbst da hochgeklettert und wurde dann erst aufgehängt. Oder aber, er hat es gar selbst getan. Theatralisch genug für einen inszenierten Selbstmord wäre es ja …“, fügte Kurt hinzu.
Tatjana hatte Mühe sich zu beherrschen und sagte giftig: „Wenn Sie die Güte hätten mich ausreden zu lassen, dann könnte ich Ihnen mitteilen was wir anderen schon lange in Erfahrung gebracht haben, während Sie zu Hause noch in aller Ruhe erfolglos versucht haben das Kreuzworträtsel in der Sonntagszeitung zu lösen. Der Mann ist sicher nicht selbst da hinauf geklettert und schon gar nicht freiwillig. Er war nämlich bereits tot, bevor er aufgehängt wurde. Selbst von hier unten ist zu erkennen, dass dem Mann die Kehle aufgeschlitzt wurde. Wäre das am Kreuz hängend passiert, müssten, trotz des starken Regens, noch Unmengen von Blut am Boden zu finden sein.“
„Hm, vielleicht ist ja alles in der Kleidung versickert?“, wandte Dennis ein, während sich Kurt über Tatjanas Tonfall ärgerte.
Am liebsten hätte er ihr entgegnet, dass er überhaupt nicht das Kreuzworträtsel bearbeitet, sondern wie immer zunächst den Sportteil und anschließend die Comics gelesen hatte. Hägar war einfach unschlagbar komisch … und auch ansonsten war er keineswegs auf der faulen Haut gelegen, sondern am frühen Morgen auch schon mit dem Hund draußen gewesen. Denn außer ihm machte das ja keiner und schon gar nicht bei diesem Sauwetter. Hätte er außerdem nicht so lange mit dem uneinsichtigen Vollpfosten an der Schranke diskutieren und anschließend den ganzen Weg zu Fuß zurücklegen müssen, wäre er auch längst da gewesen. Und überhaupt war er ja schließlich der Erste Kriminalhauptkommissar und damit so etwas wie der Vorarbeiter der Truppe. Sie möge sich also gefälligst im Ton mäßigen, und ihm etwas mehr Respekt entgegen bringen. Er hatte aber mittlerweile gelernt, dass es klüger war unnötige Konfrontationen mit Tatjana von Senden zu meiden. Also schluckte er kurz und sagte stattdessen ganz ruhig: „Vielen Dank für die Infos, jetzt bin ich einigermaßen im Bilde. Sprechen Sie doch bitte jetzt mit den Wichtigtuern da drüben … diesem Herrn Schöhler nebst Anhang. Vielleicht haben die ja noch etwas zu berichten, das uns weiterhelfen könnte.“
„War hier eigentlich schon immer so ein riesiges Kreuz? Das ist ja mindestens acht Meter hoch … wie um alles in der Welt schafft man da eine Leiche hoch?“ staunte Dennis.
„In den Fünfzigern wurde zunächst ein hölzernes Gipfelkreuz angebracht. Erst vor einiger Zeit habe ich gelesen, dass es aufgrund witterungsbedingten Zerfalls im Jahre 2003 durch diese Stahlkonstruktion ersetzt werden musste. Ob dieses Kreuz jetzt aber größer ist als das Vorherige weiß ich nicht“, antwortete Kurt.
Er zeigte auf den Leichnam: „Um da einen erwachsenen Mann aufzuhängen, braucht man doch einen Kran oder so etwas … könnte man den unbemerkt her - und auch wieder weg schaffen? Das ist wohl eher unwahrscheinlich, oder? Umso wichtiger ist es, dass die Spurensicherung sich alles genauestens vorknöpft. Meinetwegen darf die Leiche jetzt auch herunter geholt werden, damit sie näher begutachtet werden kann. Einschätzungen bezüglich der Todesursache und des Todeszeitpunktes wären für den Anfang schon mal sehr hilfreich.“
Dann schaute er zu Dennis: „Ist eigentlich dein Kumpel, das Dickerchen aus der Rechtsmedizin schon hier aufgetaucht? Ich konnte ihn nämlich noch nirgendwo entdecken.“
Dann lachte Kurt, als er hinterher schickte: „Bei dessen Körperfülle werden wir uns wohl noch gedulden müssen, bis er mitsamt seiner Ausrüstung hier oben angekommen sein wird. Wir können ja mal die Jungs von der Kirchengemeinde fragen, ob sie für den Herrn Doktor unterwegs eine Trinkstation errichten können. Das wäre doch mal ein Akt der Nächstenliebe, nicht wahr?“
„Sehr witzig, Kurt. Du warst auch nicht gerade schnell hier oben und zudem ganz schön mitgenommen, als du ankamst ... ich habe es genau gesehen. Übrigens, echt cooles Taschentuch … ist das ein Erbstück aus dem Nachlass deines Urgroßvaters?“, frotzelte Dennis Rathvan.
Kurt schwieg, und Dennis fuhr fort: „Soweit ich weiß, hat Simon Brandner an diesem Wochenende frei, weil er noch bis einschließlich heute auf einem internationalen Kongress für forensische Pathologie in der Schweiz ist. Ich meine mich erinnern zu können, dass er etwas von Lausanne gesagt, und in diesem Zusammenhang von einem großen See und Bergen gefaselt hat. Im Übrigen ist Simon gar nicht mein Kumpel. Ich kenne ihn lediglich etwas näher, weil er ein ehemaliger Kommilitone Mark Schecks ist. Mark ist ein alter Schulfreund von mir und ebenfalls Mediziner. Die beiden haben zusammen in Tübingen studiert.“
In diesem Augenblick sahen Dennis und Kurt Kriminalrat Hans-Dieter Scheible auf sie zukommen. Er begrüßte sie mit den Händen in den Taschen seines langen Mantels und nickte ihnen zu: „Herr Schockenried, Herr Rathvan … da die Begebenheiten an diesem Sonntagmorgen sicherlich als außergewöhnlich zu betrachten sind, habe ich kurzerhand beschlossen mir selbst ein Bild der Situation zu verschaffen. Das entledigt Sie aber nicht der Pflicht, mich ständig auf dem aktuellen Stand der Ermittlungen zu halten, und mir neue Erkenntnisse jedweder Art unverzüglich mitzuteilen. Ich habe angeordnet, dass ab jetzt der Weg für die Fahrzeuge der Techniker wieder freigegeben wird. Außerdem benötigen wir die Hilfe der Feuerwehr, um die Leiche vom Kreuz zu holen. Die Vertretung von Herrn Dr. Brandner müsste auch jeden Moment hier sein. Mit der Ausrüstung im Schlepptau wäre es sicherlich unzumutbar per Pedes hier hoch zu gelangen. Ich bin sicher, dass Sie mir da zustimmen werden, oder?“, sagte er und schaute dabei zu Kurt.
Als er gerade wieder gehen wollte, drehte er sich nochmals zu den beiden um. „Ach, da wäre noch etwas, meine Herren: Zum jetzigen Zeitpunkt bitte keinerlei Statements gegenüber den Medien. Mit denen rede nur ich, verstanden?“
Ohne Kurt und Dennis die Gelegenheit einer Antwort gegeben zu haben, machte er auf dem Absatz kehrt und war auch schon wieder weg. Wie Dennis dem Kriminalrat nachschaute dachte er bei sich, dass dieser mit den über den erweiterten Gesichtskreis gebügelten, und noch dazu braun getönten, Haaren, ziemlich albern aussah. Herr Scheible wirkte oftmals arrogant und unnahbar im Umgang mit seinen Mitarbeitern, war aber im Grunde ganz nett. Er hatte stets ein offenes Ohr für berufliche Probleme, und wenn die Ermittlungen auch mal ins Stocken gerieten, riss er einem nicht gleich den Kopf ab. Er war mit einer Körpergröße von gerade einmal 164 Zentimetern für einen Mann relativ klein, was er häufig durch sein forsches Auftreten zu kompensieren versuchte, da er stets in Sorge war, man könnte ihn in seinem Amt nicht ausreichend respektieren.
Mittlerweile hatte es aufgehört zu regnen. Die Sonne wollte sich noch nicht zeigen, aber die grauschwarze Wolkendecke schob sich langsam auseinander und gab ein Stück blauen Himmels frei. „Ist das da drüben eigentlich die Karlshöhe?“, fragte Dennis.
„Ja“, bestätigte Kurt und erklärte seinem Kollegen: „Dahinter liegt der Stuttgarter Süden mit Heslach. Bei guter Sicht kann man von hier aus sogar den nördlichen Schwarzwald und bis zum Rand der Schwäbischen Alb sehen. Schade, dass uns das heute nicht vergönnt ist.“
„Wir sind auch nicht hier um die Aussicht zu genießen, sondern um die Ermittlungen in einem Mordfall aufzunehmen“, erinnerte Tatjana von Senden die anderen daran, was der eigentliche Grund für ihren Besuch auf dem Birkenkopf an diesem Morgen war.

Über den AutorIn

Jeremias Trumpf wurde 1974 in Stuttgart geboren. Er studierte in Tübingen und promovierte an der Medizinischen Fakultät. Er ist praktizierender Arzt, lebt und arbeitet in Stuttgart. Die Bücher im Neckarufer-Verlag erscheinen unter einem Pseudonym. Als Mediziner verfügt Trumpf über profunde Kenntnisse auf den Gebieten der Rechtsmedizin und der Psychiatrie. Seinem Thriller-Debüt „Eins“, dem Überraschungserfolg aus dem Sommer 2013, folgte noch im gleichen Jahr die Veröffentlichung von „Zwei-Die Galerie der Totenbilder“, das auf einer wahren Begebenheit basiert. „Drei-Cernunnos“ folgte im März 2015, und feierte im Rahmen der Stuttgarter Kriminächte eine viel beachtete Premiere. „Vier-Der Piano-Mann“ zeichnet das schockierende Portrait eines Serienmörders und erschien im Herbst 2016. „Fall Fünf-Land der Zypressen“, das fünfte Buch aus der fulminanten Stuttgart-Thriller-Reihe um Kurt Schockenried, Dennis Rathvan & Co erschien im Frühjahr 2019.