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Sibylle Lewitscharoff

Geisterstunde

Essays zu Literatur und Kunst

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Produktdetails

Verlag
Suhrkamp Verlag
Erschienen
2019
Sprache
Deutsch
Seiten
280
Infos
280 Seiten
ISBN
978-3-518-76167-0

Kurztext / Annotation

»Stellen Sie sich bitte vor: Peter Handke, der Spatzen liebt und ihnen die muntersten, zwitschrigsten Passagen seiner Prosa gewidmet hat, weilte in der Öffentlichkeit als Spatzenschönheit unter uns.« Stellen Sie sich weiter vor: Robert Walser, wie er »vorbildlich gekleidet auf spazierlustigen Beinen« durchs Totenreich wandert. Vielleicht begegnet er dort dem Pilger Dante auf seiner Reise durch die drei Welten des Jenseits, der Erlösung zustrebend. Uns Irdischen begegnet sie als Ahnung in den Altarbildern van Eycks, in den berauschenden Zeichnungen Achilles Rizzolis.

»Guten Morgen oder besser: Guten Abend«, begrüßt Sibylle Lewitscharoff die ihr vorausgegangenen Dichter und Künstler. Sie umarmt die Schmerzensmänner Kafka und Beckett, blickt mit Bolaño in den kalten Glutkern der Hölle, findet in den Gemälden Rembrandts einen Quell religiöser Zuversicht, lässt sich kitzeln von Romananfängen und Malweisen und widmet ihnen Essays von solcher Sprachkraft und Erkenntnisfülle, dass »das Hören und Sehen einem nicht vergeht, sondern geschärft wird« (Süddeutsche Zeitung).



Sibylle Lewitscharoff, 1954 in Stuttgart geboren, veröffentlichte Radiofeatures, Hörspiele, Essays und Romane. Für Pong erhielt sie 1998 den Ingeborg-Bachmann-Preis. Der Roman Apostoloff wurde 2009 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. 2013 wurde sie mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. Ihr erstes Theaterstück, Vor dem Gericht, wurde 2012 am Nationaltheater Mannheim uraufgeführt. Lewitscharoff war Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sowie der Berliner Akademie der Künste. Sibylle Lewitscharoff verstarb am 14. Mai 2023 im Alter von 69 Jahren in Berlin.

Textauszug

Geisterstunde

Während sie schlummern, bereiten sich ihre Werke vor. Als Schlafende wird man Dichter, Denker und Romanciers aber nicht vor die Kamera bekommen, es sei denn als Schauschläfer. Die Momente, in denen ihre Werke keimen, werden wir im Lichtbild wohl nie anschauen dürfen. Und was wäre damit gewonnen, wenn wir ein Dichterhaupt vor uns hätten, in seinem verwurstelten Kissen, nackthalsig oder mit verkrumpeltem Pyjamakragen, den Speichelfaden, der im Mundwinkel rinnt, seit Monaten, Dekaden, vielleicht Jahrhunderten stillgestellt? Neugierig griffen wir nach dem Band, in dem die versunkenen Köpfe versammelt wären: Die da!, oder schau mal: der da, so schlaff, so harmlos! Erregung, Gelächter, und die Gewohnheit hätte uns wieder. Dem Wesen der Inspiration, die sich in einem besonderen Kopf während der Nacht vorbereitet, um tags darauf zu zünden, wären wir kaum näher gerückt. Das einzige Foto der Ausstellung, das die Sekunde nach der Zündung einzufangen scheint, zeigt Hermann Hesse mit Zigarre. In Oxidationspunkten, zartem hellem Materialfraß, der von der rechten Gesichtshälfte aus ins Freie flirrt, hat sich ein Ideengestöber verewigt. Aber nur, weil Hermann Hesse unwahrscheinliches Fotoglück besaß. Er war einer der besten Schriftstellerposeure mit seinen spiegelnden Brillengläsern, dem fein geschnittenen Gesicht, das den Verschlußsekunden der Kameras lässig standhielt. Hermann Hesse sieht immer aus, als würde er denken. Und der Zufall, Licht und Schatten, Fensterglieder, Lampenschirme, Korbstühle halfen gerne mit, diese Illusion zu erzeugen.

Wenn aber Ricarda Huch, einen Arm auf ein rundes Tischchen gestützt, mit geschlossenen Augen das Sinnieren mimt, während die Unterkante eines Buchs auf ihren Schenkel drückt, so wirkt die Pose nur darum weniger albern, weil der Abzug entkräftet ist und alles auf ihm ins Reich verantwortungsloser Gespenster entblichen. Auch das Gestrüpp, das in der Vase steckt, ist längst ins Totenreich der Pflanzen eingegangen. Wer wollte da noch übelnehmen? Und wächst dem harmlosen Tick, ausgerechnet vor einem Fotografen sinnieren zu wollen, wo man doch höchstens an einen zwickenden Knopf denken kann, nicht so etwas wie Charme zu? Zeit, die sich ausbreitet, weiß wie Knochen, schönt und vergibt jede Albernheit.

Daß Karl Kerényi denkt, womöglich an das leichte Fortlaufen des Lebens der Götter, will ich allerdings gern glauben, da ich von ihm die schwarze Rückenansicht vor mir habe, im Begriff, eine Treppe hinaufzusteigen. Was diesen Glauben bestärkt, ist die enge Gasse, sein Hut, vor allem aber der schwarze Lampenteller schräg über ihm, hoch genug angebracht, um seinen Geist emporzuziehen. Ein Heiligenschein, unter den man treten und den man wieder verlassen kann. Ich stelle mir vor: im Bann dieser Lampe denkt Kerényi an die dionysischen Ledersackriten, und Pause dann, bis ihn weiter oben eine neue Lampe empfängt, die den kindlichen Dionysos in ihm wachruft, wie ihn Mänaden in einem Korb hin- und herschwingen.

Stefan George wiederum denkt nicht, sondern versucht, einen Geist zu zwingen. Die Pose wirkt rabiat, seine Hände sind kurz davor, sich in die Hosenbeine zu krallen. Das Bild könnte Schrenck-Notzing entnommen sein: Materialisationsphänomene. Ein Beitrag zur Erforschung der mediumistischen Teleplastie, einem Buch, das damals großes Aufsehen erregte. Und warum nicht George darin? Als Mediumisator, der aus einer Hypnotisierten diese häutigen, hellen, gefältelten Gebilde zieht, die herumschleiern und sich blähen, bis das Gesicht eines Toten erscheint, und wieder zusammensacken. Aus Körperöffnungen und Vorhangschlitzen emanieren gaukelnde Substanzen, sogenannte Pseudomorphosen. Man ahnt, wie sehr das Fotografieren selbst ein zutiefst pseudomorphotisches Unterfangen ist.

Ob eine Pseudomorphose oder nur ein Vögelchen Hans-Georg Gadamers Aufmerksamkeit fesselt, bleibt unbekannt, daß aber zweiundneunzig seiner Greisenhaare irokesi

Beschreibung für Leser

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