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Roland Barthes

Mythen des Alltags

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Produktdetails

Verlag
Suhrkamp Verlag
Erschienen
2019
Sprache
Deutsch
Seiten
325
Infos
325 Seiten
ISBN
978-3-518-76439-8

Kurztext / Annotation

Roland Barthes' »Mythen des Alltags« sind längst selbst zum Mythos geworden. In seinen provokativ-spielerischen Gesellschaftsstudien entschlüsselt er Phänomene wie das Glücksversprechen der Waschmittelwerbung, das Sehnsuchtspotential von Pommes frites und die göttlichen Qualitäten des Citroën DS. Seine radikale Hinterfragung des Alltäglichen ist bis heute von bestechender Aktualität. Die Essays ermuntern dazu, dem scheinbar Selbstverständlichen kritisch gegenüberzutreten und den Blick für mögliche Veränderungen zu schärfen. Die erste vollständige Übersetzung enthält 34 zusätzliche Essays und macht diesen Kultklassiker deutschsprachigen Lesern erstmals in seiner ganzen Bandbreite zugänglich. »Mythen des Alltags« bietet ein Instrumentarium zur Deutung unserer Alltagskultur und begründete Roland Barthes' Ruf als brillanter Interpret der Welt der Zeichen.

Roland Barthes wurde am 12. November 1915 in Cherbourg geboren und starb am 26. März 1980 in Paris an den Folgen eines Verkehrsunfalls. Er studierte klassische Literatur an der Sorbonne und war danach als Lehrer, Bibliothekar und Lektor in Ungarn, Rumänien und Ägypten tätig. Ab 1960 unterrichtete er an der École Pratique des Hautes Études in Paris. 1976 wurde er auf Vorschlag Michel Foucaults ans Collège de France auf den eigens geschaffenen Lehrstuhl »für literarische Zeichensysteme« berufen. In Essais critiques beschäftigt sich Barthes mit dem avantgardistischen Theater. Prägend für ihn waren unter anderem Brecht, Gide, Marx, de Saussure sowie Jacques Lacan. Zudem war Barthes ein musikbegeisterter Mensch, vor allem als Pianist und Komponist.

Textauszug

Der Prozeß gegen Dupriez

Der Prozeß gegen Gérard Dupriez (der ohne ein bekanntes Motiv seinen Vater und seine Mutter umgebracht hat) zeigt deutlich, in welch schwerwiegenden Widersprüchen unsere Justiz befangen ist. Das liegt daran, daß die Geschichte ungleichmäßig voranschreitet: Die Idee des Menschen hat sich in den letzten hundertfünfzig Jahren stark gewandelt, neue Wissenschaften der psychologischen Exploration sind entstanden, doch dieser partielle Fortschritt der Geschichte hat noch keinerlei Veränderung im System der strafrechtlichen Begründungen nach sich gezogen, da die Justiz ein unmittelbarer Ausfluß des Staates ist und über unseren Staat seit der Verkündung des Code pénal immer noch dieselben Herren gebieten.

So kommt es, daß das Verbrechen von der Justiz stets nach den Normen der klassischen Psychologie konstruiert wird: Eine Tatsache besteht nur als Element einer linearen Rationalität, sie muß nützlich sein, sonst verliert sie das Wesentliche und wird unerkennbar. Um die Tat Gérard Dupriez' benennen zu können, mußte man für sie einen Ursprung finden; der ganze Prozeß ging also um die Suche nach einer Ursache, wie winzig sie auch sein mochte; der Verteidigung blieb paradoxerweise nur noch übrig, für dieses Verbrechen gleichsam eine eigenschafts- und bestimmungslose Absolutheit zu beanspruchen, es im Wortsinne zu einem namenlosen Verbrechen zu machen.

Die Anklage jedenfalls hatte ein Motiv gefunden - das von den Zeugen widerlegt wurde: Die Eltern Gérard Dupriez' hätten sich seiner Heirat entgegengestellt,50 und deshalb habe er sie getötet. Hier haben wir also ein Beispiel für das, was die Justiz als Kausalität eines Verbrechens betrachtet: Die Eltern des Mörders sind zufälligerweise hinderlich; er tötet sie, um das Hindernis zu beseitigen. Und selbst wenn er sie im Zorn tötet, bleibt dieser Zorn doch ein rationaler Zustand, da er unmittelbar zu etwas dient (was bedeutet, daß psychologische Tatsachen in den Augen der Justiz sich noch nicht mildernd auswirken, insofern sie in den Bereich einer Psychoanalyse fallen, doch stets nützlich sind, insofern sie einer Ökonomie zugehören).

Es genügt also, daß die Tat abstrakt nützlich ist, damit das Verbrechen einen Namen bekommt. Die Anklage hat die Weigerung von Gérard Dupriez' Eltern, der Heirat zuzustimmen, nicht als Grund für einen quasi geistesverwirrten Zustand, die Wut, anerkannt; es kümmert sie wenig, daß rational (nach Maßgabe genau der Rationalität, die eben noch die Begründung für das Verbrechen liefern sollte) der Verbrecher von seiner Tat keinerlei Vorteil erhoffen konnte; die Heirat wird mit höherer Wahrscheinlichkeit durch den Mord an den Eltern als durch ihren Widerstand verhindert, denn Gérard Dupriez hat nichts getan, um sein Verbrechen zu verbergen. Man begnügt sich hier mit einer amputierten Kausalität; es kommt nur darauf an, daß es für die Entstehung, nicht jedoch für die Folgen von Dupriez' Wut ein Motiv gibt; man unterstellt dem Kriminellen einen Geisteszustand, der logisch genug ist, um die abstrakte Nützlichkeit seines Verbrechens zu erfassen, nicht jedoch dessen reale Folgen. Anders gesagt, es genügt, daß die Geistesverwirrung einen vernünftigen Ursprung hat, damit man sie als Verbrechen bezeichnen kann. Ich habe schon beim Dominici-Prozeß auf diese Eigenschaft der strafrechtlichen Vernunft hingewiesen: Sie ist »psychologischer« und insofern »literarischer« Natur.

Die Psychiater wiederum haben nicht zugestanden, daß ein unerklärliches Verbrechen ebendadurch aufhört, ein Verbrechen zu sein; sie haben dem Angeklagten die volle Schuldfähigkeit zugesprochen und sich damit auf den ersten Blick in Gegensatz zu den traditionellen strafrechtlichen Begründungen gestellt. Für sie ist das Fehlen einer Kausalität kein Hinderungsgrund, den Mord als Verbrechen zu bezeichnen. Paradoxerweise ist es hier die Psychiatrie, die den Gedanken einer absoluten Selbstkontrolle verteidigt un

Beschreibung für Leser

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