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Produktdetails

Verlag
Campus Verlag GmbH
Campus
Erschienen
2023
Sprache
Deutsch
Seiten
289
Infos
289 Seiten
2 sw Abbildungen
205 mm x 134 mm
ISBN
978-3-593-51027-9

Inhaltsverzeichnis

Inhalt
1. Einleitung 7
1.1 Was ist ein Ritual? 7
1.2 Was ist Ritualforschung? 17
1.2.1 Theoretische Konzepte 17
1.2.2 Ritualforschung in der Geschichtswissenschaft 30
2. Rituale als historische Phänomene - zentrale Themenfelder 43
2.1 Alltägliche Interaktionsrituale 45
2.2 Rituale des Lebenszyklus - Geburt, Heirat, Tod, Initiation 54
2.3 Rituale des Jahreszyklus - Rituale der kollektiven Erinnerung 72
2.4 Rituale des Opfers und der Gabe 77
2.5 Rituale der Herrschaft 85
2.5.1 Rituale der Monarchie 88
2.5.2 Rituale der Stadtkommune 112
2.5.3 Rituale des modernen Staates 121
2.6 Rituale der Begegnung und Konfliktbeilegung 133
2.7 Rituale des Rechts, des Gerichts und der Strafe 145
2.8 Rituale der Umkehrung und der Rebellion 157
3. Kontroversen und systematische Aspekte 173
3.1 Wie lassen sich Rituale historisch rekonstruieren? 174
3.2 Wie funktionieren Rituale? 189
3.3 Wann misslingen Rituale? 207
3.4 Wie verändern sich Rituale? 214
3.5 Rituale und Medien: Körper und Schrift 221
3.6 Antiritualismus und Moderne 230
3.7 Ausblick: Perspektiven der historischen
Ritualforschung 237
Auswahlbibliographie 241
Personen- und Sachregister 282

Textauszug

1. Einleitung
1.1 Was ist ein Ritual?
Rituale sind allgegenwärtig und wirkmächtig, auch heute noch. Nur ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit, um das zu illustrieren: Am 20. Januar 2009 legte Barack Obama vor der Öffentlichkeit Washingtons und der ganzen Welt seinen Amtseid als 44. Präsident der Vereinigten Staaten ab, indem er seine rechte Hand auf die Bibel Abraham Lincolns legte und die Worte wiederholte, die der Oberste Richter John Roberts ihm vorsprach: "I, Barack Hussein Obama, do solemnly swear that I will execute the office of President of the United States faithfully and will to the best of my ability preserve, protect and defend the Constitution of the United States. So help me God." Damit war der neue Präsident der Vereinigten Staaten kreiert - so sollte man meinen. Doch manche in den USA bezweifelten dies. Denn Richter Roberts hatte aus Versehen den exakten Wortlaut des Eides, so wie er in der Verfassung niedergelegt ist, verändert (das Adverb "faithfully" stand an der falschen Stelle) und Obama hatte es ihm genau so nachgesprochen. In der amerikanischen Öffentlichkeit brach eine Debatte darüber aus, ob Obama nun tatsächlich Präsident sei. Die Administration wollte vollkommen sicher gehen und ausschließen, dass irgendein Gegner des ersten farbigen US-Präsidenten den kleinen Ritualfehler zum Anlass nehmen könnte, die Gültigkeit des ganzen Aktes zu bestreiten. Daher ließ Richter Roberts Obama das Ritual am folgenden Tag korrekt wiederholen: Jetzt war Obama zweifelsfrei Präsident.
Es erscheint verblüffend und befremdend, dass in unserer Gegenwart ein solch scheinbar archaischer Glaube an die Notwendigkeit der korrekten äußerlichen Form eine so große Rolle spielen soll. Sicher ist die Episode ein Grenzfall, und Obama wäre vermutlich von den allermeisten US-Bürgern auch als Präsident anerkannt worden, wenn er den Eid nicht korrigiert hätte. Aber gerade Grenzfälle machen gemeinhin sichtbar, was im Normalfall verdeckt bleibt: dass die symbolische äußere Form eine wesentliche Rolle spielt. Deshalb ist die Geschichte ein Indiz dafür, welche Wirkmacht Ritualen auch heute noch zukommt. Und sie eignet sich ganz allgemein dazu, sich der Frage zu nähern, was Rituale sind, wie sie funktionieren und was sie leisten.
Zunächst muss man sich allerdings klar machen, was man überhaupt tut, wenn man einen so zentralen kulturwissenschaftlichen Begriff wie "Ritual" definiert. In der Alltagssprache wird das Wort diffus verwendet und nicht von verwandten Ausdrücken wie Zeremonie, Fest, Feier, Kult, Brauch, Etikette oder Routine unterschieden. Es wäre allerdings ganz falsch zu erwarten, dass ein solcher Begriff dann wenigstens in der Wissenschaftssprache allseits einheitlich und eindeutig verwendet würde. Das ist schon deshalb nicht anzunehmen, weil sich sehr viele wissenschaftliche Disziplinen mit rituellen Phänomenen befassen und dabei teilweise ganz unterschiedliche Dinge vor Augen haben - Religionswissenschaft, Kulturanthropologie, Soziologie, Literatur-, Theater-, Musik- und Kunstwissenschaft, Rechts- und Politikwissenschaft, Psychologie, Theologie und nicht zuletzt die Geschichtswissenschaft.
Definitionen wissenschaftlicher Begriffe dienen dazu, die Vielfalt der Phänomene zu ordnen, Unterscheidungen zu treffen, das Gegenstandsfeld einer Disziplin zu strukturieren und sich darüber untereinander präzise zu verständigen. Meist enthalten solche Begriffe schon den Kern einer Theorie über den Gegenstand, um den es geht. Mit anderen Worten: Definitionen sind wichtige methodisch-theoretische Instrumente, aber keine endgültigen Wahrheiten. Es ist notwendig, jeweils offenzulegen, wie man die Begriffe verwendet, damit man nicht aneinander vorbeiredet und darüber diskutieren kann, ob die eine Definition hilfreicher ist als die andere. Es ist aber weder möglich noch notwendig, ja nicht einmal wünschenswert, sich auf eine einzige, "richtige" und "endgültige" Definition zu einigen. Deshalb ist die Geschichte der Ritualforschung immer zugleich eine Geschichte unterschiedlicher Ritualdefinitionen (vgl. etwa Leach 1968; Belliger/Krieger 1998; Michaels 2003; Kreinath/ Snoek/Stausberg 2006; Fugger 2011 u. v. a.).
Für Historiker kommt noch eine andere Schwierigkeit hinzu. Sie müssen unterscheiden zwischen den Begriffen, die sie selbst zum Zweck wissenschaftlicher Analyse verwenden, und den (womöglich gleichlautenden) Begriffen, die in den historischen Quellen verwendet werden. Wenn, wie etwa im Falle von "Ritus" oder "Zeremonie", die heutigen Begriffe eine lange Geschichte haben, in der sich ältere und jüngere Bedeutungsschichten überlagern, ist es umso wichtiger, sich darüber Rechenschaft abzulegen, in welchem Sinne man selbst die Worte jeweils gebraucht.
Erstens: Rituale sind geformt und wiederholen sich; das heißt, sie spielen sich immer wieder in bestimmten, gleichen oder ähnlichen Formen ab. Das ist der Kern dessen, was Rituale ausmacht: Sie folgen einer standardisierten äußeren Form und sind daher erwartbar und wiedererkennbar. Das heißt, es gibt bestimmte Regeln, wie ein Ritual formal "richtig" abläuft, welche Gesten, Worte und Umstände korrekt und welche Akteure für das rituelle Handeln kompetent sind. Wie die Normierung der Formen beschaffen ist, kann ganz unterschiedlich sein: Es kann sich um eine stillschweigende, implizite, allein im Handeln selbst erfahrbare Regelmäßigkeit handeln oder um eine schriftliche Normierung in Form eines festen Ritualskripts. Diese Standardisierung entlastet von der Wahl zwischen prinzipiell unendlich vielen möglichen Handlungsweisen und sorgt so für Erwartungssicherheit und dauerhafte Struktur.
Dies heißt allerdings keineswegs, dass Rituale vollkommen starr und unveränderlich wären. Die äußeren Formen bedürfen zwar grundsätzlich einer gewissen Konstanz, sonst wären sie nicht wiederholbar und wiedererkennbar, und man könnte nicht von einem Ritual sprechen. Die Formen sind aber zugleich für die Beteiligten in einem gewissen Maße verfügbar und veränderbar. Rituale können absichtsvoll gestaltet werden - auch wenn das oft nicht allen Teilnehmern bewusst ist oder sogar verschleiert wird. Dabei haben die verschiedenen Beteiligten unterschiedlich großen Handlungsspielraum und Verfügungsmacht (agency) über den Ablauf eines Rituals.
Zweitens sind Rituale als solche zeitlich, räumlich und sozial gekennzeichnet; dasheißt, siewerdenausdemalltäglichen Handlungsfluss auf verschiedene Weise herausgehoben, symbolisch eingerahmt und zu bestimmten Anlässen demonstrativ aufgeführt. Es gibt ganz unterschiedliche akustische und visuelle Zeichen des Anfangs und Endes; der Ort wird symbolisch markiert; die Akteure sind durch Kleidung und andere Attribute hervorgehoben; es gibt spezifische feierliche Sprachformeln. Meist sind Rituale auch durch besondere materielle Pracht und ästhetische Qualität gegenüber dem Alltag gekennzeichnet. Damit wird eine besondere Handlungsebene etabliert. Das heißt: Rituale erfolgen nicht spontan; man kann sie nicht zufällig und unbewusst vollziehen; man folgt dabei vielmehr einem Anlass, einer bewussten Absicht (intentio solemnis) und einer Regie. In der Regel werden Rituale vor einer gewissen Öffentlichkeit oder zumindest vor bestimmten Zeugen aufgeführt. Öffentlichkeit ist dabei relativ zu verstehen; gemeint ist die Öffentlichkeit der jeweiligen Ritualgemeinschaft. Das schließt nicht aus, dass bestimmte Teile eines Rituals im Geheimen vollzogen werden. Die gleichzeitige körperliche Anwesenheit von Akteuren und Adressaten ist konstitutiv, wobei beide Rollen nicht scharf zu trennen sind: Die Akteure sind immer zugleich auch Adressaten und umgekehrt. Die Adressaten eines Rituals sind keineswegs allein Menschen, sondern können auch Götter, Ahnen, Heilige oder Dämonen sein. Rituale haben demonstrativen Charakter; sie werden als herausgehobene Akte wie auf einer Bühne (im wörtlichen oder übertragenen Sinne) in mehr oder weniger feierlicher Weise inszeniert.
Drittens sind Rituale symbolisch in dem Sinne, dass sie über sich selbst hinaus auf einen größeren sozialen Ordnungszusammenhang einer Gemeinschaft verweisen, den sie symbolisieren und zugleich bekräftigen - aber auch zuweilen demonstrativ in Frage stellen können. Rituale sagen etwas aus, sie haben einen kommunikativen Charakter; das unterscheidet sie von bloßen individuellen Routinen. Sie symbolisieren die Einheit der jeweiligen Gemeinschaft, ihre Grenzen, ihre inneren Ordnungsprinzipien und leitenden Werte in verdichteter, vorwiegend nonverbaler Form. Im Ritual stellt sich eine Gemeinschaft "nicht nur immer wieder die eigene Weltanschauung in einer geordneten symbolischen Großform vor, sondern sie gestaltet sich zugleich auch im Handeln als die aktiv gelebte Repräsentation ihres Weltbildes" (Soeffner 2010: 53). Dabei kann nicht nur dem ganzen Akt, sondern auch jedem einzelnen Element einer rituellen Handlungssequenz, jeder Gebärde, jedem Gegenstand, ja auch dem Ort und dem Zeitpunkt eine besondere Bedeutung zugemessen werden. Das wiederum setzt einen gemeinsamen, kollektiv geteilten symbolischen Code voraus. Erst aus diesem kollektiven Zusammenhang beziehen die Konventionen eines Rituals ihre Geltung. Das heißt allerdings nicht, dass dieser kollektive symbolische Code sehr präzise wäre und dass alle Beteiligten die Symbole stets gleich deuteten - im Gegenteil. Es macht gerade die besondere Leistungskraft von Ritualen aus, dass sie in vieler Hinsicht diffus, vage und vieldeutig sind. Ein tatsächlicher Konsens über die genaue Bedeutung des Aktes ist nicht erforderlich, solange die Beteiligten glauben, dass es einen solchen Konsens gibt, und dies einander gerade durch ihre Teilnahme an dem Ritual gegenseitig vermitteln. Das macht Rituale in hohem Maß anpassungsfähig und offen für Bedeutungswandel. Selbst wenn niemand mehr weiß, was ein altes Ritual einmal bedeutet hat - solange es immer noch vollzogen wird, hat es einen sozialen Sinn und kann mit neuen Bedeutungszuschreibungen aufgeladen werden.
Viertens haben Rituale performativen Charakter, das heißt, sie sagen nicht nur etwas, sie tun etwas. Sie sind wirkmächtig in dem Sinne, dass sie das, was sie darstellen, zugleich herstellen. Die meisten Rituale bewirken eine Veränderung der sozialen Wirklichkeit und stiften eine Verpflichtung, nämlich dass die Beteiligten sich in der Zukunft an das halten, was sie im Ritual gemeinsam symbolisch dargestellt haben. Sie ziehen eine Grenze zwischen Vorher/ Nachher, stiften eine Zäsur, gliedern die Zeit, wo sonst nur unmerkliche, fließende Übergänge wären: Sie trennen das alte Jahr vom neuen, Schuld von Unschuld, Recht von Unrecht, Kindheit von Erwachsensein, das Leben vom Tod; sie machen jemanden zum König, Priester, Doktor; sie verwandeln ein Brautpaar in ein Ehepaar, Feindschaft in Freundschaft, Krieg in Frieden und so fort. Wie jede Grenzziehung haben Rituale immer ein ambivalentes Gesicht: Sie trennen nicht nur, sie verbinden zugleich.
Die klassische Ritualtheorie geht davon aus, dass gemeinsam vollzogene Rituale in den Beteiligten die entsprechenden Gefühle erzeugen - zum Beispiel Gefühle der Zusammengehörigkeit, der Verpflichtung, der Würde oder auch der Scham. Rituale haben - so könnte man sagen - eine kollektive Ansteckungswirkung (Durkheim 1912/1981). Allerdings entzieht sich das der Nachprüfbarkeit: Niemand kann in andere hineinsehen. Doch selbst wenn Rituale die Gefühle, die inneren Einstellungen, die sie symbolisch darstellen, nicht wirklich bei allen Beteiligten erzeugen, so ist das im Einzelfall unter Umständen gar nicht entscheidend. Der springende Punkt bei Ritualen ist gerade, dass es auf den äußeren Vollzug ankommt, damit das Ritual seine Wirkmacht entfaltet. Wesentlich ist, was äußerlich sichtbar gezeigt und wechselseitig beobachtet wird. Denn darauf legen sich die Teilnehmer im Ritual wechselseitig fest, indem alle einander gegenseitig Augenzeugen ihrer Teilnahme sind. Ob man später gegen diese Verbindlichkeit (commitment) verstößt, ist eine andere Frage. Das Ritual selbst kann nicht erzwingen, dass die Beteiligten sich an die von ihm gestifteten Verbindlichkeiten halten. Aber es bewirkt, dass alle Beteiligten das erwarten und sich an dieser Erwartung in ihrem zukünftigen Handeln orientieren. Das macht den performativen Charakter des Rituals aus: Es bewirkt, was es darstellt. In einem Akt "sozialer Magie" (Bourdieu 1982/1990, 1980/1993) verändert es die soziale Wirklichkeit, indem es die Erwartungen der Beteiligten verändert. Anders formuliert: Ein Ritual ist ein "Modell" der sozialen Ordnung in einem doppelten Sinne: nicht nur ein deskriptives Modell von der Wirklichkeit, indem es sie abbildet, sondern auch ein präskriptives Modell für die Wirklichkeit, indem es sie normativ beeinflusst (Leach 1968).
Auf diese Weise entfalten Rituale eine elementare sozial strukturbildende Wirkung. Sie ordnen den einzelnen Akt in ein kollektives, überindividuelles Strukturmuster ein. Denn sie weisen zeitlich über die Gegenwart in doppelter Weise hinaus: Sie erinnern an vergangenes und verpflichten zu zukünftigem Handeln. Rituale verbinden in sich Dauer und Wandel, sie bilden ein Scharnier zwischen Individuum und Gemeinschaft. Gerade indem sie zum Beispiel einen individuellen Statuswechsel bewirken, bekräftigen sie umgekehrt zugleich die Beständigkeit der Ordnung als Ganzer. Indem sie sich in hergebrachten, wiederholbaren Formen abspielen, stellen sie die Beteiligten in eine Ordnung hinein, die älter ist als sie selbst und sie zugleich überdauern wird. Dass sie ihre soziale Wirkung gerade durch den äußerlichen Vollzug erzielen, gerade darauf beruht ihre spezifische Leistungskraft: Denn innere Einstellungen schwanken bekanntlich, auf sie lassen sich keine dauerhaften Institutionen gründen; dazu bedarf es vielmehr gleichbleibender, äußerlich sichtbarer Formen.
Rituale überbrücken gerade die "neuralgischen Punkte" im Leben eines Einzelnen wie der Gesellschaft als Ganzer (Dücker 2007) und verleihen institutionellen Ordnungen Bestand. Und das gilt paradoxerweise auch dann, wenn Rituale, wie gesagt, gar nicht wirklich immer gleich bleiben, sondern es den Akteuren oft nur so vorkommt. Wesentlich ist, dass Rituale über sich selbst hinausweisen, den jeweiligen Augenblick symbolisch überschreiten und ihn in einen größeren sozialen - und meist auch sakralen - Zusammenhang stellen. Das gilt paradoxerweise auch und gerade dann, wenn Traditionen tatsächlich unterbrochen sind oder die Stabilität einer Ordnung gefährdet ist: Dann überbrücken Rituale solche Brüche und erzeugen eine symbolische Dauer, die ohne sie gar nicht besteht. Kurzum: Ohne Rituale gibt es keine gesellschaftliche Ordnung, keine Institutionen, keine dauerhafte soziale Struktur. Rituale vermitteln die elementaren Werte, Wissensbestände und Ordnungskategorien einer Gesellschaft; sie reproduzieren und transformieren die soziale Wirklichkeit. Das macht sie zu einem hervorragenden Forschungsgegenstand für Historiker, die etwas über das Funktionieren vergangener Gesellschaften herausfinden wollen.
Der hier verwendete Ritualbegriff ist enger als im allgemeinen Sprachgebrauch üblich. Auch jenseits von Ritualen im strengen Sinne, das heißt herausgehobenen feierlichen Handlungssequenzen, sind alle möglichen Formen der Ritualisierung im sozialen Alltag allgegenwärtig. Fast alles menschliche Handeln hat rituelle Aspekte, nämlich insofern es äußerlich standardisiert werden kann; alles Handeln ist der rituellen Formung zugänglich. Dies soll hier als "Ritualisierung" bezeichnet werden und ist ebenfalls Gegenstand dieses Buches - jedenfalls solange es sich um Kommunikationsvorgänge handelt und Gegenstand historischer Ritualforschung ist. Ritualisierungen können allerdings auch nicht-kommunikatives Handeln betreffen, also keinerlei symbolische Mitteilung enthalten, wie es etwa bei individuellen Routinen wie dem täglichen Zähneputzen bis hin zu neurotischen Zwangshandlungen der Fall ist. Solche Phänomene sind indes Gegenstände der Psychologie, nicht der historischen Ritualforschung.
Der hier vorgeschlagene Ritualbegriff umfasst als allgemeiner Oberbegriff eine Vielzahl von Phänomenen, die die Historiker teilweise unter anderen Bezeichnungen erforscht haben, wie Zeremonien, Feste, Feiern, Liturgie, Kulte, Bräuche etc. Besonders schwierig und oft wenig sinnvoll ist die Abgrenzung von Ritus beziehungsweise Ritual gegenüber Zeremonie beziehungsweise Zeremoniell; all diese Ausdrücke werden meist synonym verwendet. Die Unterscheidung zwischen sakralen Ritualen und säkularen Zeremonien lässt sich angesichts der historischen Phänomene nicht halten, bei denen religiöse, politische und soziale Aspekte meist überhaupt nicht voneinander zu trennen sind. Schon eher sinnvoll erscheint es, zwischen Ritualen als transformativen und Zeremonien als konfirmativen Akten zu unterscheiden: Das Ritual bewirkt einen Statuswandel, die Zeremonie nicht. Die Krönung ist danach ein Ritual, das Unter-der-Krone-Gehen des Königs eine bloße Zeremonie (so Turner 1969/1989: 95; vgl. Leyser 1993; Füssel 2009; Hölkeskamp 2013: Fn. 23). Doch auch dieser Unterschied lässt sich in der historischen Realität oft nicht wiederfinden; vielmehr ist ein und derselbe Akt meist sowohl transformativ als auch konfirmativ (Fugger 2011: 417). Im Begriff der Performativität fällt überdies beides zusammen. Die meisten Elemente, die hier als Kennzeichen von Ritualen beschrieben wurden, treffen auch auf Zeremonien zu. Hinzu kommt: Was wir heute als Ritual bezeichnen, wird in den Quellen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit oft caeremonia genannt.
"Ritual" (engl. ritual, frz. rituel, ital. rituale) ist kein historischer Quellenbegriff, sondern ein modernes analytisches Konzept, das von der Religionswissenschaft um 1900 geprägt worden ist. Er ist abgeleitet von den lateinischen Wörtern ritus für einen einzelnen formalisierten sakralen Akt und rituale für das kodifizierte Regelwerk dieser Riten (zum Beispiel das Rituale Romanum der römisch-katholischen Liturgie). Analog dazu steht caeremonia für die konkrete einzelne Zeremonie und caeremoniale, "Zeremoniell", für das Zeremonienbuch oder die allgemeine Vorschrift, wie die Zeremonien abzuhalten sind. Diese Unterscheidungen entsprechen der wichtigen sprachwissenschaftlichen Unterscheidung zwischen parole (für die tatsächlichen sprachlichen Äußerungen) und langue (für die Sprache als Regelsystem). Seit um 1900 der Begriff "Ritual" als Bezeichnung für einen spezifischen komplexen sozialen Handlungstyp geprägt worden ist, hat er sich als allgemeiner Oberbegriff eingebürgert und wird auch hier im Folgenden so verwendet, während "Ritus" sich eher auf das einzelne Element eines Ritualkomplexes bezieht.
Darin eingeschlossen sind Unterbegriffe wie Liturgie (das Regelwerk gottesdienstlicher Handlungen), Kult (sakrale Praxis), Sakrament (heilswirksame christliche Rituale), Fest (als Gegenbegriff zu Alltag) und Feier (als strenger strukturierte Form des Festes). Mit dem Theater, der Performance, dem lateinischen spectaculum, teilweise auch mit dem Spiel hat das Ritual den Inszenierungscharakter gemeinsam. Ein historischer Quellenbegriff, der dem hier verwendeten Begriff Ritual sehr nahe kommt, ist der Begriff der Solennität (actus solemnis). Actus solemnes waren in der römischen Antike ursprünglich feierliche Handlungen, die einmal im Jahr (solus annus) auf gleiche Weise in strenger Förmlichkeit und Verbindlichkeit zelebriert wurden. Im römischen Recht bedeutet solemnis die zur Rechtsverbindlichkeit nötige äußere Form eines Rechtsgeschäfts. Auch im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Sprachgebrauch brachte man mit "Solennität" die Verbindung von Formstrenge, Feierlichkeit und Wirkmächtigkeit zum Ausdruck, also wesentliche Züge dessen, was ein Ritual kennzeichnet. In vielen anderen Sprachen gibt es ähnliche Begriffe (vgl. Kreinath/Snoek/Stausberg 2006).
Rituale werden meist in einen engen Zusammenhang mit Magie gebracht. Unter Magie versteht man gemeinhin den Vollzug geheimer symbolischer Sprachformeln, Gesten und Handlungen, die auf überempirische Weise eine bestimmte Wirkung in der physischen Welt herbeiführen oder Wissen von verborgenen Dingen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft offenbaren sollen. Es gibt in fast allen Kulturen Fruchtbarkeits-, Heilungs-, Schutz-, Abwehr-, Liebes- und Schadensmagie. In der europäischen Vormoderne wurde schwarze Magie auf die Mitwirkung dämonischer Mächte bzw. auf einen Pakt mit dem Teufel zurückgeführt und als Hexerei bestraft. Die europäischen Anthropologen des 19. Jahrhunderts benutzten den Begriff der Magie, um die kultische Praxis der "primitiven Völker" zu kennzeichnen und sie von der Religion abzugrenzen. Danach kennzeichne es Magie, dass sie geheim und tendenziell illegitim ist und zu individuellen, privaten Zwecken eingesetzt wird, während die Religion öffentlichen und sozial gemeinschaftsstiftenden Charakter habe. Eine andere gängige Unterscheidung besagt, dass Magie darauf angelegt sei, die Götter durch Rituale zum Eingreifen in die physische Welt zu zwingen, während die Religion eine höhere Stufe der menschlichen Kulturentwicklung darstelle, bei der die Menschen die Götter durch Gebete um Gnade bitten. Dabei dient der Magiebegriff dazu, Aberglauben von Religion zu unterscheiden. Diese wertende Gegenüberstellung verschleiert den Umstand, dass die christliche Religionsgeschichte selbst von einer Vielzahl magischer Phänomene durchdrungen ist (zur Theorie Mauss 1950/1989; Hahn 1977; Kippenberg/Luchesi 1995; zur Geschichte der Magie in Europa Thorndike 1929-1958; Thomas 1971; Wilson 2000). In modernen Theorien der Performativität wird von der sozialen Magie der Rituale gesprochen (Bourdieu 1982/1990). Damit soll der Umstand betont werden, dass Rituale allein durch den korrekten Vollzug bestimmter Handlungen eine Zustandsveränderung bewirken - allerdings nicht in der physischen, sondern in der sozialen Welt. Zugleich wird damit angedeutet, dass den Beteiligten der soziale Charakter der rituellen Wirkmacht nicht bewusst ist, sodass die Wirkung performativer Rituale als quasi-natürlich erscheint (vgl. Kap. 1.2.1 und 3.2).
1.2 Was ist Ritualforschung?
1.2.1 Theoretische Konzepte
Wie der Begriff "Ritual" stammt auch die wissenschaftliche Ritualforschung aus der Zeit um 1900 und ist im Kontext des späten Kolonialismus ebenso wie der Krise der Moderne zu sehen, als man sich in Europa der Relativität aller Kultur bewusst wurde. Sie entstand Hand in Hand mit neuen kulturwissenschaftlichen Disziplinen wie der Religionswissenschaft, der Soziologie und der Kulturanthropologie (in England meist Social Anthropology genannt, in Deutschland Ethnologie oder Völkerkunde). Diese Disziplinen kennzeichnete dreierlei: Erstens, dass sie Religionen als soziale Phänomene thematisierten; zweitens, dass sie menschliches Verhalten als Kollektivphänomen zu erklären suchten, und drittens, dass sie das empirische Material ganz verschiedener Herkunft, Epochen und Weltregionen in einen großen systematischen Zusammenhang brachten, nämlich die Quellen der klassischen Antike, die Schriften der Bibel, die Beschreibungen fremder Völker und das Wissen über die "Folklore" in Europa selbst. All das wurde geordnet mit Hilfe evolutionistischer Kulturstufenmodelle, die von einer schrittweisen Entwicklung der Menschheit von "primitiven" zu immer komplexeren Zuständen ausgingen. In allen diesen Disziplinen spielte das Konzept des Rituals als elementares soziales Phänomen eine prägende Rolle.
Die Vorläufer der modernen Ritualforschung sind allerdings älter. Mit Ritualen hat man sich, ohne schon über diesen Begriff zu verfügen, bereits lange vorher beschäftigt, und zwar in verschiedenen Zusammenhängen. Die europäische frühe Neuzeit war eine Zeit der Wissensexplosion. Zum einen sah man sich seit der Entdeckung und kolonialen Erschließung der Neuen Welt mit einem rasant anwachsenden Wissen über fremde Völker konfrontiert, das die Reisenden mit nach Hause brachten und das man zu sammeln, zu klassifizieren und mit dem Wissen über die europäischen
"Altertümer" zu vergleichen suchte (etwa Meiners 1806/07). Zum anderen führten die Glaubensspaltung und die Herausbildung distinkter Konfessionsgemeinschaften zu einer geschärften Aufmerksamkeit für die unterschiedlichen religiösen Kultformen innerhalb des Christentums, aber auch darüber hinaus, was einzelne Gelehrte dazu veranlasste, großangelegte Sammlungen religiöser Riten zu publizieren (Marcellus 1516; Picart 1723-1727; Rippel 1722/21784; Kirchner 1724). Drittens hatte die zunehmende Zeremonialisierung des Alltags an den Herrscherhöfen und des Gesandtschaftsverkehrs zur Folge, dass man umfangreiche Sammlungen von Zeremonialbeschreibungen anlegte, in dickleibigen Kompendien veröffentlichte und durch "wissenschaftliche" Systematisierung zu durchdringen versuchte (Modius 1586; Loomie 1987; Godefroy 1649; Lünig 1719/20; Leti 1685; Rohr 1729/30; Nichols 1788-1823 und viele andere; vgl. Vec 1997). Dabei ging es darum, alle möglichen zeremoniellen Präzedenzfälle genau zu registrieren, um sich in Zukunft daran orientieren zu können, denn davon hing die Aufrechterhaltung von Status, Rang und Ehre einer jeden Standesperson ab. Schließlich erstreckte sich das Interesse der Gelehrten an rituellen Phänomenen im 18. Jahrhundert auch zunehmend auf die Sitten des "gemeinen Volkes" in Europa selbst: So begann man auch Zunftregeln, Festbräuche und "abergläubische" Praktiken aufzuzeichnen (Friese 1703; Friese 1708-1716; Nichols 1788-1823). Die Erfahrung der tiefgreifenden politischen, sozialen und wirtschaftlichen Umbrüche in der Sattelzeit um 1800 verstärkte das Bewusstsein der Differenz zwischen historischer Tradition und eigener Gegenwart und schärfte die Wahrnehmung der Verschiedenheit und des historischen Gewordenseins aller Kulturen.
Seit der Aufklärung herrschte ein evolutionäres Denken, das die Geschichte als Aufeinanderfolge von Kulturstufen verstand - von der Jäger- und Sammlerkultur über die Ackerbaukultur hin zur modernen Handels- und Industriekultur. In den fernen Kulturen glaubte man nun die frühen Epochen der eigenen Geschichte, die "Kindheit des Menschengeschlechts", den unberührten "Naturzustand" der Menschheit schlechthin vor sich zu sehen. Seit der Aufklärung, das heißt dem ausgehenden 18. Jahrhundert, gab es auch - grob vereinfachend formuliert - zwei Arten, sich den "einfachen" und "wilden" Kulturen und ihren Sitten zuzuwenden: Entweder geschah das im Geist eines rationalistischen Fortschrittsoptimismus, der den Ausgang aus dem "rohen" Zustand der Barbarei und die fortschreitende Zivilisation als Errungenschaften verstand - eine Sicht, die durch den Siegeszug der Darwinschen Evolutionstheorie später noch gefördert wurde. Oder es geschah - seit Jean-Jacques Rousseau - im Geist einer romantischen Gegenwartskritik, die in der Lage der "edlen Wilden" das verlorene Paradies ursprünglicher Freiheit und Gleichheit erblickte. Diese unterschiedlichen Wertungen schlugen sich auch in der Einstellung gegenüber Ritualen nieder. Bis heute lassen sich diese zwei Pole - eine ritualkritische und eine ritualromantische Haltung - in der Beurteilung von Ritualen wiederfinden.
Die eigentliche Ritualforschung, die erstmals einen wissenschaftlichen Begriff des Rituals entwickelte und diesen ins Zentrum geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschung stellte, begann etwa seit den 1880er-Jahren. Der Ritualbegriff bildete geradezu den Kern der neu entstehenden vergleichenden Religionswissenschaft, und diese wiederum hatte ihre Wurzeln in der Altorientalischen und Klassischen Philologie und der Wissenschaft des Alten Testaments. Gründungsfiguren der modernen Kulturanthropologie wie William Robertson Smith (1846-1894), James George Frazer (1854- 1941), Arnold van Gennep (1873-1957) oder die sogenannten Cambridge Ritualists um Jane Ellen Harrison (1850-1928) hatten alle mit dem Studium alter Sprachen begonnen. Man hat geradezu von einer "ritualtheoretischen Wende" in den Geisteswissenschaften gesprochen ("ritual turn", vgl. Stausberg 2004). Diese Wende hatte verschiedene Ursachen, vor allem der Beginn der anthropologischen Feldforschung, die Entzifferung der altorientalischen Schriften und die Rezeption der Darwinschen Evolutionstheorie.
Seit dem frühen 20. Jahrhundert reisten europäische Anthropologen in ferne Weltgegenden, um die dort lebenden "primitiven Völker", ihre Sprache, ihre Sitten und vor allem ihre religiösen Kulte an Ort und Stelle selbst zu studieren; andere lasen die Berichte solcher Forschungsreisenden, verglichen sie und machten sich auf dieser Grundlage ein systematisches Bild von den "primitiven" Kulturen. Deren Wahrnehmung war von vornherein dadurch geprägt, dass man die Kulturen anderer Erdteile zu den alten Kulturen des antiken Mittelmeerraums als den Wurzeln der eigenen europäischen Geschichte in Beziehung setzte. Einen ungeheuer starken neuen Impuls für die Geisteswissenschaften bedeutete daher auch die Dechiffrierung altorientalischer Schriften wie des Altägyptischen oder des Assyrischen. Dadurch wurde eine riesige Menge an Textmaterial erstmals wieder lesbar, das eine Fülle an Aufschlüssen über rituelle Phänomene bereit hielt. Die Gelehrten begnügten sich nun nicht mehr damit, diese Schriften zu sammeln und zu edieren; sie wollten vielmehr auch die historische Wirklichkeit verstehen, die sich dahinter verbarg. Und vor allem: Sie lasen diese Texte nicht mehr als rein religiöse Zeugnisse, sondern vielmehr als Manifestationen sozialer Ordnung. Dabei kam ihnen die Evolutionstheorie von Charles Darwin zu Hilfe (Über die Entwicklung der Arten, 1859), die von Gelehrten wie Edward Burnett Tylor und Lewis Henry Morgan auf die Menschheitsentwicklung übertragen wurde. Sie ermöglichte es, das Wissen über ganz unterschiedliche Epochen und Weltregionen in ein allgemeines Stufenschema einzuordnen. Solche Schemata waren etwa "Wildheit - Barbarei - Zivilisation" oder "Animismus - Polytheismus - Monotheismus" oder "Magie - Religion - Wissenschaft". Aus heutiger Sicht erscheinen diese Schemata eurozentrisch und einem kolonialistischen Überlegenheitsgefühl verhaftet. Sie machten es aber möglich, ganz unterschiedliche soziale und religiöse Phänomene unter einem generellen Konzept, nämlich dem des Rituals, zusammenzufassen und zu analysieren.

Hauptbeschreibung

Rituale sind allgegenwärtig. Amtseinsetzung und Friedensschluss, Taufe, Hochzeit und Beisetzung, Denkmalsturz und Erinnerungsfeier: Ritualen kommt eine elementare, sozial strukturbildende Funktion zu. Mehr noch als für die Gegenwart gilt das für frühere Epochen. Seit die Geschichtswissenschaft im Zuge des "cultural turn" dieses Thema für sich entdeckt hat, sind immer mehr historische Phänomene durch die "ritualtheoretische Brille" betrachtet worden. Dieses Studienbuch gibt einen hervorragenden Überblick über die wichtigsten Theorien und Kontroversen der historischen Ritualforschung und die Vielzahl der rituellen Phänomene in der Geschichte.
"Wie ausgereift das Konzept dieser Reihe inzwischen ist, zeigt gerade dieser Band. … Das Buch vermittelt eine Unmenge an grundlegenden Einsichten über Vergangenheit und Gegenwart und entwickelt überzeugende Perspektiven für die Zukunft des Faches Geschichte." Das Historisch-Politische Buch

Über den AutorIn

Barbara Stollberg-Rilinger ist Professorin für die Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Münster und leitet seit September 2018 das Wissenschaftskolleg zu Berlin.