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Produktdetails

Verlag
Luchterhand Literaturverlag
Erschienen
2019
Sprache
Deutsch
Seiten
368
Infos
368 Seiten
ISBN
978-3-641-16324-2

Kurztext / Annotation

- Ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis 2019 -

HERKUNFT ist ein Buch über den ersten Zufall unserer Biografie: irgendwo geboren werden. Und was danach kommt.

HERKUNFT ist ein Buch über meine Heimaten, in der Erinnerung und der Erfindung. Ein Buch über Sprache, Schwarzarbeit, die Stafette der Jugend und viele Sommer. Den Sommer, als mein Großvater meiner Großmutter beim Tanzen derart auf den Fuß trat, dass ich beinahe nie geboren worden wäre. Den Sommer, als ich fast ertrank. Den Sommer, in dem die Bundesregierung die Grenzen nicht schloss und der dem Sommer ähnlich war, als ich über viele Grenzen nach Deutschland floh.

HERKUNFT ist ein Abschied von meiner dementen Großmutter. Während ich Erinnerungen sammle, verliert sie ihre. HERKUNFT ist traurig, weil Herkunft für mich zu tun hat mit dem, das nicht mehr zu haben ist.

In HERKUNFT sprechen die Toten und die Schlangen, und meine Großtante Zagorka macht sich in die Sowjetunion auf, um Kosmonautin zu werden.

Diese sind auch HERKUNFT: ein Flößer, ein Bremser, eine Marxismus-Professorin, die Marx vergessen hat. Ein bosnischer Polizist, der gern bestochen werden möchte. Ein Wehrmachtssoldat, der Milch mag. Eine Grundschule für drei Schüler. Ein Nationalismus. Ein Yugo. Ein Tito. Ein Eichendorff. Ein Sa?a Stani?i?.

Sa?a Stani?i? wurde 1978 in Vi?egrad (Jugoslawien) geboren und lebt seit 1992 in Deutschland. Seine Erzählungen und Romane wurden in über 30 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Sa?a Stani?i? erhielt u. a. den Preis der Leipziger Buchmesse für »Vor dem Fest« und für »Herkunft« den Deutschen Buchpreis 2019 sowie u. a. den Eichendorff-Literaturpreis, den Schillerpreis und den Hans-Fallada-Preis. Er lebt und arbeitet in Hamburg.

Textauszug

SPIEL, ICH UND KRIEG, 1991

Hier ist eine Reihe von Dingen, die ich hatte:

Mutter und Vater.

Großmutter Kristina, die Mutter meines Vaters, die immer wusste, was mir fehlt. Wenn sie mir das selbstgestrickte Jäckchen brachte, dann war mir wirklich kalt gewesen. Ich gab es bloß ungern zu. Welches Kind will schon, dass seine Großmutter immer recht hat?

Nena Mejrema, die Mutter meiner Mutter, die mir aus Nierenbohnen die Zukunft las. Sie warf die Bohnen, und die Bohnen warfen Bilder eines noch ungelebten Lebens auf den Teppich. Einmal prophezeite sie mir, eine ältere Frau werde sich in mich verlieben, oder ich würde alle Zähne verlieren, die Nierenbohnen zeigten da eine gewisse Unschärfe.

Eine Furcht vor Nierenbohnen.

Ich hatte einen gut rasierten Großvater, den Vater meiner Mutter, der gern angeln ging und gern zu allen freundlich war.

Jugoslawien. Das aber nicht mehr lang. Der Sozialismus war müde, der Nationalismus wach. Fahnen, jeder eine eigene, im Wind, und in den Köpfen die Frage: Was bist du?

Interessante Gefühle gegenüber meiner Englischlehrerin.

Einmal lud sie mich zu sich nach Hause ein, bis heute weiß ich nicht, warum. Ich hin, aufgeregt wie Frühlingsanfang. Wir aßen selbstgemachten Englischlehrerinnenkuchen und tranken schwarzen Tee. Es war der erste schwarze Tee meines Lebens, ich kam mir irrsinnig erwachsen vor, tat aber so, als tränke ich schwarzen Tee seit Jahren, wurde auch den Expertensatz los: »Ich mag es, wenn er nicht so richtig schwarz ist.«

Ich hatte einen C-64. Sportspiele waren mein Lieblingsgenre, Summer Games, International Karate Plus, International Football.

Eine Menge Bücher. 1991 hatte ich ein neues Genre entdeckt: Choose your own adventure. Als Leser entscheidest du selbst über den Fortgang der Geschichte:

Rufst du: »Aus dem Weg, Höllengezücht, sonst schneid ich dir die Adern durch!« - lies weiter auf Seite 306.

Und ich hatte meine Mannschaft: Crvena Zvezda - Roter Stern Belgrad. Ende der Achtziger holten wir in fünf Jahren drei Mal den Meistertitel. Standen 1991 im Viertelfinale des Pokals der Landesmeister gegen Dynamo Dresden. Zu wichtigen Spielen kamen hunderttausend in unserem Marakana von Belgrad zusammen, davon mindestens fünfzigtausend Wahnsinnige. Immer brannte was, immer sangen alle.

Meinen rot-weiß gestreiften Schal trug ich oft zur Schule (gern auch im Sommer) und schmiedete für die Zukunft Pläne, die mich in die Nähe der Mannschaft bringen sollten. Den Weg, selbst Fußballer zu werden und vom Roten Stern für 100.000.000.000.000 Dinar (die Inflation) gekauft zu werden, sah ich als wenig wahrscheinlich an. Also wollte ich Physiotherapeut werden oder Ballwart oder von mir aus auch Ball, Hauptsache, ich wurde Teil vom Roten Stern.

Ich verpasste keine Spielübertragung im Radio und keine Zusammenfassung im Fernsehen. Zum dreizehnten Geburtstag wünschte ich mir eine Dauerkarte.

Nena befragte die Bohnen und sagte: »Du kriegst ein Fahrrad.«

Woher die Bohnen das wüssten, fragte ich.

Sie warf erneut eine Handvoll und sagte ernst: »Verlass an deinem Geburtstag das Haus nicht.« Dann stand sie auf, warf die Bohnen aus dem Fenster, wusch sich die Hände und legte sich schlafen.

Eine realistische Chance auf die Erfüllung meines Wunschs gab es schon deswegen nicht, weil Belgrad knapp 250 Kilometer entfernt lag. Das Einzelkind in mir spekulierte dennoch darauf, dass die Eltern sich meinetwegen zu einem Umzug in die Hauptstadt entschließen würden.

Am 6. März fegte Roter Stern im Hinspiel Dynamo Dresden mit 3:0 weg. Vater und ich sahen die Übertragung, unsere Stimmen waren schon nach dem ersten Treffer heiser. Nach dem Abpfiff nahm er mich zur Seite und sagte, er werde versuchen, uns Tickets für das Halbfinale zu besorgen, falls sich die Mannschaft qualifizieren sollte. Mit uns meinte er auch Mutt

Beschreibung für Leser

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