0 0,00*

Produktdetails

Verlag
Luchterhand Literaturverlag
Erschienen
2018
Sprache
Deutsch
Seiten
640
Infos
640 Seiten
ISBN
978-3-641-20234-7

Kurztext / Annotation

Im heißen Sommer des Jahres 1967 geht Hanns-Josef Ortheil zusammen mit seinem Vater auf große Fahrt. Sie führt auf einem schwer beladenen Frachtschiff von Antwerpen durch die Meerenge von Gibraltar ins Mittelmeer und weiter bis nach Griechenland und Istanbul. Mit an Bord ist - vom Steward über den Funker bis zum Kapitän - eine ganze Gesellschaft im Kleinen. Und auch die Angst fährt im Bauch dieses Ungetüms aus Eisen und Stahl, das auf hoher See in schwere Stürme gerät, beständig mit.

Der junge Hanns-Josef Ortheil begegnet dem auf seine Weise: er beobachtet, reflektiert, schreibt. Zwischen Kommandobrücke, Frachtraum und Schiffsbibliothek beginnt seine Suche nach Fixpunkten und dem, was für ihn zählt und weiterhilft: Die Lektüre Homers? Die neusten Songs der Beatles? Das Klavierspiel? Die Arbeit an der Bordzeitung? Die Freundschaft mit einer jungen Griechin? Oder die Aussteigerfantasien eines Besatzungsmitglieds? Immer reichhaltiger und intensiver wird die abenteuerliche Reise in unbekannte Gewässer, weit über frühere Ideen und Fantasien hinaus: der große Roman einer Odyssee ins Erwachsenenleben.



Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren. Er ist Schriftsteller, Pianist und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Seit vielen Jahren gehört er zu den beliebtesten und meistgelesenen deutschen Autoren der Gegenwart. Sein Werk wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Thomas-Mann-Preis, dem Nicolas-Born-Preis, dem Stefan-Andres-Preis und dem Hannelore-Greve-Literaturpreis. Seine Romane wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt.

Textauszug

Kennenlernen

Als ich am nächsten Morgen wach wurde, öffnete ich nicht gleich die Augen. Ich lauschte darauf, welche Geräusche zu hören waren, aber es war vollkommen still. Nur das Blättern von Papier bekam ich mit, und da wusste ich, dass Papa ein Buch las. Ich schaute zu ihm hinüber und sah, dass es stimmte. Papa war bereits wach, anscheinend las er sogar schon eine ganze Weile. Ich wünschte ihm einen »Guten Morgen«, und er tat dasselbe und hielt das Buch, in dem er gerade las, hoch.

»Du wirst staunen«, sagte er, »ich lese die Odyssee.« - »Und wieso?« fragte ich. - »Ich wollte mir den Anfang mal genauer anschauen. Und dieser Anfang ist wirklich erstaunlich. Letztlich geht es ja um eine Seefahrt, Odysseus möchte endlich heim, sitzt aber auf einer Insel fest. Weiß man eigentlich, um welche Insel es sich gehandelt haben könnte?« - »Solche Fragen haben wir uns im Griechisch-Unterricht nicht gestellt«, antwortete ich. - »Aber wieso nicht?! Konkrete Vermutungen über die Fahrt des Odysseus müssen einen doch interessieren.« - »So haben wir die Odyssee nicht gelesen«, sagte ich, »sie ist schließlich kein Tatsachenbericht, sondern ein Epos, eine Erfindung.« - »Jaja«, antwortete Papa, »natürlich ist sie eine Erfindung, aber auch einer Erfindung könnte etwas Reales beigemischt sein.« - »Uns haben andere Themen beschäftigt«, sagte ich, »die Götterwelt, die Taten der Götter, ihre Beziehungen zu den Menschen, die Religion der frühen Griechen.« - »Ist ja auch interessant«, antwortete Papa, »obwohl mich selbst zunächst mal interessieren würde, wo genau sich Odysseus während seiner langen Seefahrt herumgetrieben haben könnte. Ich werde dem mal nachgehen, vielleicht gibt es auch dazu Literatur.«

Ich hatte den Eindruck, dass Papa sich wirklich für die Odyssee zu interessieren begann, ja, er hatte anscheinend einen eigenen Zugang zu Homers Epos gefunden. Er blieb im Bett liegen und las weiter, während ich in das kleine Bad ging und mich unter die Dusche stellte. Alles an Bord wirkte so, als befände man sich an Land, die Albireo rührte sich keinen Millimeter, schwer und unbeweglich lag sie am Kai. Ich schaute durch ein Bullauge hinaus und sah, dass dort viele Arbeiter unterwegs waren. Von allen Seiten wurden die Frachtgüter herbei geschafft, anders als gestern hatte man die Verladung jetzt wohl zügig in Angriff genommen.

Ich zog mich an und wartete, bis auch Papa aufgestanden war und geduscht und sich ebenfalls angezogen hatte. Er trug wieder seine helle Kapitänsmontur, ließ aber die Schiebermütze in der Kabine, als wir an Deck gingen. Ich hatte richtig vermutet: An diesem Morgen waren nicht nur viele Hafenarbeiter, sondern auch große Teile der Mannschaft mit dem Verladen der Fracht beschäftigt. Die beiden Männer in blauer Arbeitskleidung, die gestern noch allein an den Luken gestanden hatten, erkannte ich nicht mehr wieder, alle Männer an Bord trugen jetzt blau, als wären sie Mitglieder eines Sportvereins oder Artisten im Zirkus. Die meisten standen nämlich nicht still, sondern bewegten sich akrobatisch, kletterten an Deck herum, hüpften in die dunkle Tiefe des Rumpfs und schwangen sich, als ginge das mühelos, aus eigener Kraft wieder ans Licht.

Ihre Bewegungen wurden von einem Mann überwacht, der - ganz ähnlich wie Papa - eine beige Hose und ein weißes Hemd trug. Ich vermutete, das sei der Kapitän, wurde aber eines Besseren belehrt, als der Mann uns erkannte, zu uns kam und uns begrüßte. Er nannte seinen Nachnamen (den ich nicht verstand), sagte, dass er der Erste Offizier sei, und fügte ein »Willkommen an Bord« hinzu. Er sprach so leise, dass ich fast nichts verstand, er flüsterte die wenigen Worte vor sich hin, und mir fiel auf, dass er weder Papa noch mich dabei anschaute. Stattdessen blickte er auf seine Schuhspitzen, als müsste er überprüfen, ob sie auch sauber (oder sauber genug) wären.

Beschreibung für Leser

Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet