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Produktdetails

Verlag
Kursbuch Kulturstiftung gGmbH
Erschienen
2016
Sprache
Deutsch
Seiten
200
Infos
200 Seiten
ISBN
978-3-946514-02-2

Kurztext / Annotation

In der öffentlichen Debatte ist derzeit von kaum etwas anderem die Rede als davon, wie wir mit dem Fremden und mit den Fremden umgehen wollen - und irgendwie werden wir uns selbst dabei fremd. Aber was ist fremd? Was bedeutet 'fremd sein'? Sind wir selbst uns nicht ebenso fremd wie den Menschen, die aus fernen Ländern zu uns kommen? Welche Funktion hat das Fremde? Julia Kristevas Sentenz, die sich auch in diesem Kursbuch wiederfindet, bleibt aktueller denn je: 'Der Fremde, Figur des Hasses und des Anderen, ist weder das romantische Opfer unserer heimischen Bequemlichkeit noch der Eindringling, der für alle Übel des Gemeinwesens die Verantwortung trägt.'

Mit Beiträgen von Julia Kristeva, Alfred Hackensberger, Naika Foroutan, Bilal Tanweer, Mita Banerjee, Florian Beaudenon, Alan Posener, Armin Nassehi, Wolfgang Schmidbaruer, Thomas Kron, Pascal Berger und Gregor Dotzauer.

Seit 2012 erscheint das Kursbuch unter der Herausgeberschaft von Armin Nassehi und Peter Felixberger.
ARMIN NASSEHI (*1960) ist Soziologieprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und einer der wichtigsten Public Intellectuals in diesem Land. Im Murmann Verlag veröffentlichte er unter anderem 'Mit dem Taxi durch die Gesellschaft', in der kursbuch.edition erschien 'Gab es 1968? Eine Spurensuche'.
PETER FELIXBERGER (*1960) ist Programmgeschäftsführer der Murmann Publishers. Als Buch- und Medienentwickler ist er immer dort zur Stelle, wo ein Argument ans helle Licht der Aufklärung will. Seine Bücher erschienen bei Hanser, Campus, Passagen und Murmann. Dort auch sein letztes: 'Wie gerecht ist die Gerechtigkeit?'.
Das Kursbuch wurde 1965 von Hans Magnus Enzensberger zusammen mit Karl Markus Michel gegründet. Als einer der wichtigsten kritischen Begleiter der bundesdeutschen Öffentlichkeit setzte die Kulturzeitschrift Themen, die sonst nicht auf der öffentlichen Agenda standen. Demgegenüber gilt es heute, im vorhandenen Themendickicht neue Schneisen zu schlagen und überraschende und ungewohnte Verbindungen herzustellen. Unter der Herausgeberschaft von Peter Felixberger und Armin Nassehi bietet das Kursbuch solche neuen unerwarteten Perspektiven an. Nicht die großen Unterschiede werden diskutiert, sondern das, was einen Unterschied macht.

Textauszug

Gregor Dotzauer
Brief eines Lesers (13)

Der Titel, zufällig entdeckt, begegnete mir just in dem Moment, als Mazedonien Flüchtlingen auf der Balkanroute eine dreitägige Transiterlaubnis gewährt hatte. »The Disappearance of the Stranger«, das klang nach einem Roman oder einem Film, aber es war ein Seminar in interkultureller Kommunikation unter dem Generalthema »Dealing with The Other«, Teil eins. Wenige Tage später beschrieb mir der mazedonische Dichter Nikola Madzirov, Nachfahr einer Familie, die infolge der Balkankriege zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus Griechenland fliehen musste, in nüchternen Worten, dass es im ganzen Land keine Fahrräder mehr zu kaufen gebe. Sie seien alle in den von früh bis spät vorüberziehenden Flüchtlingstrecks im Einsatz. Man könne sie höchstens zu Wucherpreisen an der Grenze zu Griechenland erstehen oder darauf hoffen, ihnen an der Grenze zu Serbien wiederzubegegnen, von der aus findige Händler sie zum neuerlichen Verkauf an die griechisch-mazedonische Grenze zurücktransportieren. Das Bild von der Fahrradkolonne beschäftigte ihn ohne jedes poetische Interesse. Es befremdete ihn als Mensch, der kaum vor die Haustüre treten kann, ohne auf der Straße und am Horizont das endlose Band der Fahrradfahrer in der Frühsommerhitze zu sehen. So, wie er es mir ausmalte, gewann es eine geradezu surreale Qualität. Seither verfolgt mich dieses Bild. In ihm konzentriert sich für mich die Wirklichkeit eines historischen Moments, dessen handfeste Folgen ich in der eigenen Stadt zwar sehr wohl bemerke, der mir jedoch nach wie vor in Nikola Madzirovs Beobachtung am fasslichsten erscheint.

Seither sinne ich auch darüber nach, welche Bewandtnis es mit dem Verschwinden des Fremden im Umgang mit dem Anderen hat, wie der Seminartitel behauptet. Über die anhaltenden Projektionen der Xenophobie in all ihren Formen muss man nicht reden. Die Erforschung ihrer Mechanismen und Strategien trägt bei allen realen Konflikten, die sich mit ihnen vermengen, im Großen und Ganzen erfolgreich zum Abbau von Feindseligkeiten bei. Im Licht postkolonialer Erkenntnisse findet auch eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit statt, die nicht nur Auswirkungen auf das aktuelle politische Handeln hat, sondern mitunter bis ins Fiktionale reicht. Die ungewöhnlichste Maßnahme nachholender Gerechtigkeit ist sicher die »Gegendarstellung«, die der algerische Journalist Kamel Daoud gut 70 Jahre nach dem Erscheinen von Albert Camus' Roman Der Fremde mit Der Fall Meursault vorgelegt hat. Sie gibt dem anonymen »Araber«, den der Ich-Erzähler mehr oder weniger zufällig erschießt, aus der Sicht des Bruders einen Namen und ein erzählerisches Gesicht. Ergänzt wird eine Blindstelle, die der pied-noir Camus' zu seiner Zeit wohl gar nicht erkennen konnte, vermutlich aber auch gar nicht ausfüllen wollte. Denn der wirklich Fremde des Romans, der seine Leser bis heute zu befremden vermag, ist der sich selbst entfremdete, in seiner Unberührbarkeit versinkende Erzähler Meursault. Was folgt daraus für die Erfahrung von Fremdheit überhaupt? Verliert die Ethnologie als Wissenschaft vom kulturell Fremden nicht ihre Grundlage? Und kommt es in der ethnografischen Forschung nicht darauf an, auch der eigenen Kultur wie einer fremden gegenüberzutreten?

Das unendliche Spiel von Identität und Differenz hat einerseits zu jenem Abgrenzungswahn geführt, der sich auf der Straße in nationalistischen Demonstrationen und gewalttätigen Ausschreitungen Bahn bricht, und andererseits zu jener Leugnung aller Unterschiede, die Diversität beansprucht, sie im gleichen Atemzug aber schon nicht mehr wahrnehmen will. Vor allem an britischen und amerikanischen Universitäten hat sich daraus ein Drama eigener Art ergeben, das auch hierzulande mehr und mehr Anhänger findet. Der antirassistische und antikolonialistische Impetus, der einst Jean-Paul Sartres Phänomenologie des Anderen mit Frantz Fanons Hoffnungen

Beschreibung für Leser

Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

Über den AutorIn

Dr. Armin Nassehi, geboren 1960 in Tübingen, ist Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Neben seiner akademischen Tätigkeit ist er als Redner und Berater in verschiedenen Branchen und Organisationen gefragt. Peter Felixberger gründete mit 20 eine Buchhandlung. Mit 25 startete er nach dem Studium als Verlagslektor. Mit 30 eröffnete er das Redaktionsbüro Wort&Tat. Mit 35 realisierte er für die Weltausstellung EXPO 2000 eine Buchreihe. Mit 40 schrieb er sein erstes Buch und gründete das unabhängige Online-Magazin changeX. Zahlreiche Veröffentlichungen in SZ, FR, FAZ, Handelsblatt, WiWo, brand eins u. a. Mit 45 startete er zusammen mit Michael Gleich das internationale Medienprojekt Culture Counts.