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Produktdetails

Verlag
Kursbuch Kulturstiftung gGmbH
Erschienen
2016
Sprache
Deutsch
Seiten
176
Infos
176 Seiten
ISBN
978-3-946514-32-9

Kurztext / Annotation

Wenn ein kalter Krieg einem heißen Krieg allemal vorzuziehen ist, gilt Gleiches auch übertragen auf den Frieden? Das heißt: Ist auch ein 'kalter Frieden', kalkuliert und stets im Horizont drohender Gewalt, einem heißen Frieden, also einem, der auf starken Gefühlen und einem Höchstmaß an Interessenausgleich und Stabilität basiert, vorzuziehen? Was einen kalten Frieden ausmacht und ob und welche Alternative es zu ihm gibt, damit setzen sich die Beiträge des neuen Kursbuches auseinander. Zum Beispiel mit der Frage, ob Europa tatsächlich vor einem lang schon prognostizierten Bürgerkrieg aller gegen alle steht oder nicht doch in der Lage ist, den wirklichen Frieden zu realisieren, und ob vielleicht nicht sogar beides nur zwei Seiten einer Medaille sind. Ein Maximum an Stabilität und Kalkulierbarkeit ist womöglich mit einem Maximum an Versöhnung gar nicht zu haben. Denn wo ein kalter Frieden sich damit zufrieden gibt, dass die zivilisatorische Eisdecke hält, muss ein heißer Frieden so entschieden kompromisslos verteidigt werden, wie er begründet wird. Soweit es also um eine Frage der Temperamente geht, zielt das, was im Kursbuch 188 diskutiert wird, insgesamt auf ein angemessenes Maß an eher kühlem Temperament ab.
Mit Beiträgen von Wolfgang Schmidbauer, Karsten Fischer, Ulrike Guérot, Micha Pawlitzki, Bernd Stiegler, Deniz Yücel, Manon Clasen, Stephan G. Humer, Klaus Hofmann, Johann Hinrich Claussen und Armin Nassehi.

Seit 2012 erscheint das Kursbuch unter der Herausgeberschaft von Armin Nassehi und Peter Felixberger.
ARMIN NASSEHI (*1960) ist Soziologieprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und einer der wichtigsten Public Intellectuals in diesem Land. Im Murmann Verlag veröffentlichte er unter anderem 'Mit dem Taxi durch die Gesellschaft', in der kursbuch.edition erschien 'Gab es 1968? Eine Spurensuche'.
PETER FELIXBERGER (*1960) ist Programmgeschäftsführer der Murmann Publishers. Als Buch- und Medienentwickler ist er immer dort zur Stelle, wo ein Argument ans helle Licht der Aufklärung will. Seine Bücher erschienen bei Hanser, Campus, Passagen und Murmann. Dort auch sein letztes: 'Wie gerecht ist die Gerechtigkeit?'.

Das Kursbuch wurde 1965 von Hans Magnus Enzensberger zusammen mit Karl Markus Michel gegründet. Als einer der wichtigsten kritischen Begleiter der bundesdeutschen Öffentlichkeit setzte die Kulturzeitschrift Themen, die sonst nicht auf der öffentlichen Agenda standen. Demgegenüber gilt es heute, im vorhandenen Themendickicht neue Schneisen zu schlagen und überraschende und ungewohnte Verbindungen herzustellen. Unter der Herausgeberschaft von Peter Felixberger und Armin Nassehi bietet das Kursbuch solche neuen unerwarteten Perspektiven an. Nicht die großen Unterschiede werden diskutiert, sondern das, was einen Unterschied macht.

Textauszug

Wolfgang Schmidbauer
Der entgrenzte Suizid
Narzisstische Kränkung im kalten Frieden

Die meisten gewissenhaften Selbstbeobachter werden zugeben, dass ihnen Mordimpulse nicht gänzlich fremd sind. Kaum einer hat das in einer so schönen Mischung von Idylle und Schauder vorgetragen wie Heinrich Heine:

»Ich habe die friedlichste Gesinnung. Meine Wünsche sind: eine bescheidene Hütte, ein Strohdach, aber ein gutes Bett, gutes Essen, Milch und Butter, sehr frisch, vor dem Fenster Blumen, vor der Tür einige schöne Bäume, und wenn der liebe Gott mich ganz glücklich machen will, läßt er mich die Freude erleben, daß an diesen Bäumen etwa sechs bis sieben meiner Feinde aufgehängt werden. Mit gerührtem Herzen werde ich ihnen vor ihrem Tode alle Unbill verzeihen, die sie mir im Leben zugefügt - ja man muß seinen Feinden verzeihen, aber nicht früher, als bis sie gehenkt werden.« (Heinrich Heine, Gedanken und Einfälle)

Der Dichter bekennt sich zu seiner Mordlust gegen jene, die ihn gekränkt haben. Aber er nimmt die Tat nicht selbst in die Hand, er wünscht sich, es möge ihm jemand die Henkersarbeit abnehmen. In der bürgerlichen Schicht hatte man damals noch Personal.

In Heines Notiz fällt der Zusammenhang zwischen Vereinfachung und Todeswunsch auf. Dem Dichter ist das städtische Leben mit seinen verletzenden Rivalitäten und seiner Unübersichtlichkeit zu kompliziert, er will es einfach haben. Und in der Tat ist der Tod der größte Vereinfacher und Kränkungslinderer von allen - einmal abgesehen davon, dass die Endlichkeit des Lebens selbst eine tiefe Kränkung darstellt. Die einem buddhistischen Weisen zugeschriebene Variante des Heine-Themas ist der Rat: »Meditiere am Ufer des Flusses, bis die Leiche deines Feindes vorbeitreibt.«

Noch viel stärker verbreitet ist die Fantasie vom Selbstmord als Erlöser, glänzend dramatisiert in Hamlets Monolog. Mit einem ausgeführten Suizid hat sie wenig gemein. Ich erinnere mich, wie im Alter von vier Jahren eine Ärztin schalt, weil ich angesichts einer drohenden Injektion schrie: »I mog nimma lem!« (hochdeutsch: Ich mag nicht mehr leben). Vielleicht erriet die strenge Frau Doktor, dass meine Absicht, sich dem Diphtherieserum durch solchen Todesmut zu entziehen, ihrer ärztlichen Kunst ins Gesicht spuckte.

In Fantasien wird der Selbstmord mehrfach genutzt: einmal, wie schon in der kindlichen Szene, als Wunschbild, um sich Angst und Schmerz zu entziehen; oft auch als symbolische Rache an jenen, die mich zu diesem Akt genötigt, die mich aus dem Leben vertrieben haben. Eine Fantasie, wie die Eltern am Grab des Kindes, das sie lebend missachtet haben, weinen, wird oft berichtet. Selbstmord ist bei jungen, körperlich gesunden Menschen nur ganz selten eine sozusagen unsoziale, nicht auf die Lebenden, sondern allein auf das eigene Ende gerichtete Tat.

Seit dem 11. September 2001 ist der Mann, der sein Leben opfert, um möglichst viele zu töten und ein Zeichen zu setzen, Symbol einer neuen Gefahr. Er verbindet die Todessehnsucht des Gekränkten mit dessen Mordlust zu einem archaischen Geltungswahn, der die triviale Mythologie der Drehbücher von Mortal Kombat umsetzt: In einer Schattenwelt müssen die Opfer ihren Mörder bedienen und seine Macht steigern. Politisch weniger bedeutungsvoll, aber wegen des wahllosen Mordens dem Terroristen zum Verwechseln ähnlich: Der Amoktäter, der seine Mitschüler, seine Lehrer oder einfach die jugendlichen Gäste in einem Lokal niederschießt.

Wie angespannt die gesellschaftliche Stimmung ist, wie wenig es den durch Bürokratie gegängelten und durch Sicherheit verwöhnten Mitteleuropäern gelingt, krasse Ereignisse einzugrenzen und möglichst viel No

Beschreibung für Leser

Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

Über den AutorIn

Peter Felixberger gründete mit 20 eine Buchhandlung. Mit 25 startete er nach dem Studium als Verlagslektor. Mit 30 eröffnete er das Redaktionsbüro Wort&Tat. Mit 35 realisierte er für die Weltausstellung EXPO 2000 eine Buchreihe. Mit 40 schrieb er sein erstes Buch und gründete das unabhängige Online-Magazin changeX. Zahlreiche Veröffentlichungen in SZ, FR, FAZ, Handelsblatt, WiWo, brand eins u. a. Mit 45 startete er zusammen mit Michael Gleich das internationale Medienprojekt Culture Counts. Dr. Armin Nassehi, geboren 1960 in Tübingen, ist Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Neben seiner akademischen Tätigkeit ist er als Redner und Berater in verschiedenen Branchen und Organisationen gefragt.