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Produktdetails

Verlag
Marix Verlag
marix Verlag ein Imprint von Verlagshaus Römerweg
Erschienen
2023
Sprache
Deutsch
Seiten
223
Infos
223 Seiten
206 mm x 134 mm
ISBN
978-3-86539-965-6

Hauptbeschreibung

Diese kulturgeschichtliche Analyse informiert facettenreich und auf neuestem Forschungsstand aus einem globalen Blickwinkel über die Geschichte und das Phänomen des Hexenglaubens. Auf wenigen Gebieten hat sich in den letzten Jahren so viel verändert wie in der Hexenforschung. Zahlreiche überlieferte Annahmen wurden durch genaue Analyse von Quellen widerlegt. Dabei kommen nicht nur die schmerzvollen Details der Verfolgungsgeschichte und das verbrämte Bild von Hexensabbatfantasien zur Sprache, sondern auch das Umkippen des Hexenparadigmas im 20. und 21. Jahrhundert. Wie steht es mit der antiken Vorgeschichte des Glaubens an Hexerei? Wie ist das Verhältnis von Frauen und Männern unter den Opfern? Gingen die Verfolgungen von »oben« oder von »unten« aus? Wie kam es zur Überwindung des Hexenglaubens? Warum wurde die Hexe zur Identifikationsfigur? Hexereiverdächtigungen sind in hohem Maße auch in anderen Kulturen bis in die unmittelbare Gegenwart präsent. Einige der massivsten Hexenverfolgungen haben außerhalb des abendländischen Kulturraumes stattgefunden. Der vorliegende Band trägt neuen Forschungsergebnissen Rechnung und widerlegt viele Klischees.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort; 1. Hexen: eine erste Problemanzeige; Das Hexenklischee; Ein Beispiel: „9 Millionen Frauen“; Heutige Schätzungen von Opferzahlen; Einiges zu Wert und Grenzen der älteren Hexenforschung; Neuere Entwicklungen der Hexenforschung; 2. Malefica: die Hexe in der Antike; Hexen in griechischen und lateinischen Überlieferungen; Magiefurcht – Magieprozesse; Hexen in der biblisch-alttestamentlichen und jüdischen Überlieferung; Hexenwesen und antike Magietheorien; Antike Magie und die konstituierenden Elemente des Hexenimaginariums; 3. Hagazussa: die frühe Geschichte des mittelalterlich-europäischen Hexenbildes; Einiges zur Wortgeschichte; Rechtsentwicklungen zwischen Antike und Mittelalter; Rahmenbedingungen des früh- und hochmittelalterlichen Hexenbildes; Canon episcopi und Dianakult; Die Hexe als Fremde; 4. Die „alte Religion“: ein Gespräch mit Margaret Murray; Der Teufel als Mann mit einer Maske?; Der Zusammenbruch einer Theorie; Margaret Murray zwischen alten und neuen Heiden; 5. Synagoga Satanae: Fiktionen einer Anti-Religion im Untergrund des Abendlandes und das Hexenimaginarium der frühen Neuzeit; Die Hexe als Häretikerin; Die Entwicklung zur „Hexensekte“; Die Merkmale der Hexe; Der Hexensabbat als Gesamtimaginarium einer Anti-Religion; Der Teufel: biblische, altkirchliche etc. Vorgeschichte; Der Teufel: christliches Mittelalter und Neuzeit; Der Teufelspakt; 6. „Malefi cos non patieris vivere“: die epidemischen Verfolgungen (14.–17. Jhdt.); Sukzession der Projektionsflächen: Juden, Aussätzige, Hexen, Vampire – und wieder Juden; Die Kleine Eiszeit; Chronologie der Verfolgungen; 7. Malleus maleficarum: Hexereiverdächtigungen als intellektuelles Konstrukt und die Überwindung des Hexenglaubens; Der Malleus Maleficarum als Beispiel einer intellektuellen juristischen Konstruktion des Hexenglaubens; Der Hexenhammer: Aus dem Inhalt; Überwindungen des Hexenglaubens; Eine weitere verfehlte Theorie: die „Vernivhtung der weisen Frauen“; Hilfsmittel der Hexenforschung; 8. „Mangu“, „soroka“, „ngua“: Hexereiverdächtigungen und Hexenbilder in außereuropäischen Kulturen; Hexenverfolgung in der Gegenwart als „Sensation“: das Thema in den Medien; Evans-Pritchard und die Azande; Und der Teufel? Religionsgeschichtliches zum Herrn der Finsternis;9. Salem: ein regionales Beispiel; Verleumdung; Anklage und Prozess; 10. Europäische Schamanen? Ein Gespräch mit Carlo Ginzburg; Der methodische Ansatz; Benandanti; Ginzburg und der Hexensabbat; Der Hexensabbat: was wir über seine Herkunft wissen; 11. „There is no such thing as magic“: Hexenbilder in Literatur und Film (19.–21. Jhdt.); 12. Wie aus bösen Hexen gute Hexen wurden: ein Gespräch mit Charles Godfrey Leland; Hexen und Göttinnen, Michelet und Leland; 13. Wicca und die Hexe als Identifikationsfigur: die Entstehung einer Religion; Anhang: Texte; a. Canidia und Erictho: zwei antike Hexen; b. Der Canon episcopi; c. Jean Bodin, Johan Fischart, „Vom ausgelasnen wütigen Teuff elsheer“ (1591) (Auszüge); d. „Wenn alle mich für eine Hexe halten, warum sollte ich keine werden?“: „The Witch of Edmonton“ (1621) (Auszug); e. Ch. G. Leland, „Aradia, or, The Gospel of the Witches” (1899) (Auszüge)

Textauszug

Hexen, Hexenverfolgungen – wie immer bei einem historischen Thema gibt es manches, was sozusagen jeder zur Sache »weiß«, aus Filmen, historischen Romanen, allgemeinem kulturellem Erbe… Lassen wir einiges daraus Revue passieren! – Hexenverfolgung war primär eine Sache des Mittelalters. – Hexenverfolgung ist eine typisch europäische Erscheinung, in erster Linie ein düsteres Kapitel abendländischer Geschichte. – Es wurden fast nur Frauen als Hexen hingerichtet. – Christliche Kleriker haben ihre Hexenbilder einer unterdrückten Bevölkerung übergestülpt. – Die Hexen waren Bewahrerinnen einer vorchristlichen Naturreligion. – Der Glaube an Hexerei ist etwas Konservatives, etwas, das über Jahrhunderte mehr oder weniger unverändert tradiert wurde. – Das Bild der »bösen« Hexe ist vor allem ein Resultat der christlich-kirchlichen Frauen- und Leibfeindlichkeit. – Vor allem Hebammen, »weise Frauen«, Kräutersammlerinnen und ähnliche wurden als Hexen verdächtigt. – Hexenverfolgungen geschahen von oben nach unten, d. h. sie wurden der Bevölkerung von fanatisierten Machthabern und Klerikern aufgedrängt. – Wer einmal in den Klauen der Verfolger war, hatte keine Chance auf Freilassung. – Rothaarige und andere auffällige Frauen galten sofort als Hexen. – Die Intensität der Hexenverfolgungen war da am größten, wo die Macht der Kirchen ungebrochen war. – Hexen wurden lebend verbrannt, während eine gaffende Menge ihnen ins Angesicht schaute. – Millionen von Frauen wurden hingerichtet. – Im 18. Jhdt. waren die Hexenverfolgungen endgültig zu Ende. – Alle diese Sätze entsprechen gängigen Hexenklischees, die man – mehr oder weniger entfernt von der akademischen Geschichtswissenschaft – nach wie vor hören und gelegentlich lesen kann. Und jeder dieser Sätze ist zumindest in dieser schlichten Form nachweislich falsch, zum Teil sogar sehr weit ab von den geschichtlichen Realitäten. Obwohl manches umstritten ist, konnte die historische Forschung doch auch eine große Zahl an Fakten bereitstellen und dokumentieren, welche ältere Klischees und Stereotypen definitiv überholen, und für manche Fragestellung einen stabilen Boden bereiten. Vor allem wurde das Bild sehr viel differenzierter: Unterschiede überwiegen die Gemeinsamkeiten. Das macht die jüngere Hexenforschung so spannend: Ihre Ergebnisse haben unser Geschichtsbild wesentlich verändert. Manches ältere »Schulbuchwissen« ist darunter zerbrochen. Sozialgeschichtliche und Gender-Forschungen haben ein überaus komplexes Szenario mit großen regionalen und chronologischen Unterschieden geschaffen, das allgemeine, sich auf große Geschichtsräume beziehende Aussagen immer schwieriger macht (denen die jüngere Geschichtswissenschaft gegenüber ohnehin notorisch skeptisch ist). Um nur ein Beispiel zu nennen, wie sich populäre Vorstellungen völlig von den Fakten abgekoppelt haben: Zahlreiche Filme und Bücher visualisieren die Szene sich im Feuer windender lebender Frauen, denen eine gaffende Menge zuschaut. Tatsächlich hat es Lebend-Verbrennungen nur sehr selten gegeben; wo verbrannt wurde, war es die Regel, dass (männliche und weibliche) »Hexen« vorher getötet (oft erwürgt) wurden und der Körper dann verbrannt wurde. Wie meist bei Hinrichtungen, war das Gesicht verhüllt (dazu gab es allerdings viele Ausnahmen). In vielen Regionen wurde gar nicht verbrannt: In England, auch in Neuengland (Salem) etwa wurden die Opfer gehängt. Solche Korrekturen nehmen den Ereignissen nichts von ihrem Schrecken. Sie warnen aber davor, sich die populären Hexenimaginationen allzu naiv als geschichtliche Wirklichkeit vorzustellen. Sie stammen zum Teil eben aus den Mittelalterfantasien, mit denen sich die aufgeklärte »Neuzeit« abgrenzend gegenüber einer »dunklen« Vergangenheit definieren wollte, um den eigenen Fortschrittsdiskurs aufrechterhalten zu können. Wir werden diesen Aspekt der Sache im Laufe dieses Buches noch genauer profilieren. Vor allem können wir in einem heutigen kulturwissenschaftlichen Kontext vielleicht ein wenig besser verstehen, wie es im Kontext gesellschaftlicher Imaginationen zu den genannten Klischees und Stereotypen kommen konnte. Wir können zumindest partiell begreifen, welche Interessen (etwa der Abgrenzung von einer vergangenen Epoche der Geschichte, oder von bestimmten Institutionen) das gesellschaftliche Hexenimaginarium geschaffen und bewegt haben. Dieses tritt uns nicht mehr als einheitliche und überwundene Größe der Vergangenheit, sondern als komplexes Überzeugungsgeflecht mit zum Teil beklemmenden Gegenwartsbezügen in den Blick. Die Forschung wird damit selbst zum Gegenstand der Ideologiekritik; Forschungsgeschichte wird zur Anfrage an unsere Gegenwart. Das Thema »Hexen« ist ein Gebiet voller Überraschungen. Plakativ gesagt kann aus der älteren Hexenforschung (etwa vor 1970) heute fast nichts mehr unbesehen übernommen werden. Es ist von daher nicht unproblematisch, dass ältere Darstellungen wie die ehemals sehr gute und materialreiche von Wilhelm Gottlieb Soldan (1803–1869) und Heinrich Ludwig Julius Heppe (1820–1879) nach wie vor immer wieder nachgedruckt werden. Das Werk dieser beiden studierten Theologen (Soldan arbeitete allerdings als Gymnasiallehrer) erschien zuerst 1843 in Soldans Erstfassung, wurde immer wieder bearbeitet, und hat lange das deutsche Hexenbild geprägt. Für Soldan war Hexerei schlicht ein Verbrechen, das es nicht gab. Alle Urteile gegen Hexen waren Justizmorde (ein Begriff, den August Ludwig Schlözer 1783 eingeführt hatte). Hexengeschichtsschreibung war hier eine Form der liberalen Kirchenkritik, die sich vor allem auf die katholische Kirche bezog. Die Hexenverfolgungen waren ein »Hexenwahn«, auf den man aus einem überlegenden geschichtlichen und aufgeklärten Abstand zurückblicken konnte. In dieser Hinsicht waren beide Autoren dem Historismus und Geschichtspositivismus des 19. Jhdts. verpflichtet, die in großer Zahl und in einer kritischen Perspektive zahlreiche Quellen benutzt haben. Kritische Reflexion des eigenen Blickwinkels war aber nicht eine Stärke dieser Forschung. Es ist erst aus unserem forschungsgeschichtlichen Abstand so, dass wir die Grenzen ihrer Analyse sehen können. Vor allem Heppe – der Soldans Schwiegersohn und ein ausgesprochen liberaler Theologe war – hatte leider eine Tendenz zu allgemeinen und auch quantitativen Aussagen (Soldan selbst war hier sehr viel vorsichtiger), die von seinen Quellen nicht getragen werden. Es sind aber gerade diese generalisierenden Aussagen, Zahlen und »plausiblen Erklärungsmuster«, die einer kritischen Analyse in Hinsicht auf die ihnen zugrunde liegenden tatsächlichen Quellen und deren Aussagewert bedürfen. Quantitative Schätzungen, die nicht direkt aus klar definierten Aktencorpora erhoben werden können, sind praktisch wertlos. Die berüchtigten »9 Millionen Opfer«, eine erfundene und maßlos überhöhte Zahl, sind zwar weithin aus der Literatur verschwunden. Und »was unmittelbar einleuchtet«, muss noch lange nicht wahr sein. Was dem heutigen Menschen plausible Motive, etwa hinter befremdlichen Verhaltensmustern sind, müssen solche noch lange nicht unter anderen kulturellen Bedingungen gewesen sein. Gerade wenn es um unsere eigene europäische, nicht überaus weit entfernte Geschichte geht, setzt der Versuch des Verstehens oft viel zu früh ein: nämlich bevor wirklich die Fakten erhoben sind, die es zu verstehen gilt (um die Problematik einer Rede von historischen »Fakten« hier noch außen vor zu lassen, die uns freilich später wieder einholen wird).