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Kontrollgewinn – Kontrollverlust
Hannah Ahlheim

Kontrollgewinn – Kontrollverlust

Die Geschichte des Schlafs in der Moderne

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42,90 €

Produktdetails

Verlag
Campus
Erschienen
2014
Sprache
Deutsch
Seiten
231
Infos
231 Seiten
4 sw Ab.
21.2 cm x 14 cm
ISBN
978-3-593-50073-7

Werbliche Überschrift

Erste interdisziplinäre Geschichte des Schlafs

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Einleitung: Die Ambivalenz des Schlafens und die Geschichte der Moderne 7
Hannah Ahlheim

Wenn sich die Seele "ihrer Gewalt über die Maschine nicht bedienen" kann: Der Schlaf in Aufklärung und Romantik 25
Sonja Kinzler

Die helle Seite der Träume: Schlaf und Traum um 1800 37
Ingo Uhlig

Halbschlafbilder: Zur Ästhetik des Kontrollverlusts 51
Hans-Walter Schmidt-Hannisa

Über Wachen und Schlafen: Medizinische Schlafdiskurse im 19. Jahrhundert 73
Philipp Osten

Schlafen am Waldensee: Thoreau, abnormale Temporalität und der moderne Körper 99
Benjamin Reiss

Wer kürzer schläft, ist länger tot? Italo Svevo und der Neovitalismus um 1900 131
Marie Guthmüller

Experimentieren mit konsolidiertem Schlaf: Nathaniel Kleitman und die Herstellung moderner zirkadianer Rhythmen 153
Matthew Wolf-Meyer

Macht über den Schlaf: Vom Experimentieren mit Schlafentzug in den USA im 20. Jahrhundert 183
Hannah Ahlheim

Schlafforschung heute: Entwicklungen, Techniken und Motivationen der Praxis 209
Thomas Penzel

Autorinnen und Autoren 227

Dank 231

Textauszug

Einleitung: Die Ambivalenz des Schlafens und die Geschichte der Moderne
Hannah Ahlheim
"Es sieht so aus, als hätte die Welt auch uns Erwachsene nicht ganz, nur zu zwei Dritteilen; zu einem Drittel sind wir überhaupt ungeboren. Jedes Erwachen am Morgen ist dann wie eine neue Geburt." Mit diesen Worten beschrieb Sigmund Freud vor fast 100 Jahren unseren allnächtlichen Schlaf. Die einfache Tatsache, dass der Mensch ein Drittel seiner Lebenszeit verschläft, gehört auf die erste Seite nahezu jeder Veröffentlichung zum Schlaf. Doch in Freuds vielzitiertem Satz steckt mehr als die Feststellung, dass jeder Mensch viel Zeit mit Schlafen verbringt. Im Schlaf, das legen Freuds Worte nahe, verlässt der Mensch für einige Stunden die Welt des Wachseins und des Erwachsenseins. Er ist in diesen Stunden so gut wie "ungeboren", in einem Zustand also, den jeder Mensch erfahren hat und der sich doch dem Bewusstsein und der Erinnerung entzieht. Nicht umsonst ist Hypnos, der Schlaf, in der griechischen Mythologie der Zwillingsbruder des Todes.
Der Schlaf ist aber nicht nur für den wachenden Geist unzugänglich und unfassbar, im Schlaf brechen sich auch Ängste, Wünsche und Irratio-nalität Bahn, die der Mensch nicht beherrschen kann. Gespenster nehmen Gestalt an, Phantasien werden erfahrbar und fühlbar, der Traum scheint Wege zu öffnen in innere Welten, die dem wachen Individuum nicht zu-gänglich sind. Die (Angst-)Phantasie, dass der Mensch im Schlaf und Traum die Herrschaft über sein Inneres verlieren könnte und damit an-greifbar wird, begeistert auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein Millio-nenpublikum: Der Protagonist des Hollywood Blockbusters Inception war 2010 im Auftrag des US-Militärs unterwegs, um Menschen durch heim-liches gemeinsames Träumen ihre Geheimnisse zu entreißen und ihnen Gedanken "einzupflanzen", die auch ihr waches Handeln bestimmen sol-len. Entzieht sich also ein Drittel unseres Lebens der rationalen Wahr-nehmung, verliert der Mensch zwangsläufig allnächtlich seine Bewusstheit, seine Entscheidungsgewalt?
Der enge Zusammenhang zwischen dem Schlaf und der Erfahrung des Kontrollverlusts wird jedoch nicht nur während des Schlafens selbst erkennbar, wenn das Bewusstsein erlischt. Vielmehr kann der Mensch auch den Vorgang des Einschlafens, Durchschlafens und Ausschlafens nicht wirklich steuern. "Wir können den Schlaf nicht direkt kontrollieren", das stellte der an der Universität Tübingen beschäftigte Neurowissenschaftler und Schlafforscher Jan Born in einem Interview im Jahr 2013 fest. Schlaf lasse sich nicht erzwingen, er funktioniere nach seinen eigenen Regeln, die die Wissenschaft noch immer nicht entdeckt und verstanden habe. Man könne daher letztlich nur versuchen, empfahl Born, dem Schlaf gegenüber "ein gelassenes Verhältnis zu entwickeln" .
So ein "gelassenes Verhältnis" zum Schlaf scheint allerdings nicht ein-fach zu haben zu sein. In westlichen Industriegesellschaften ist die Angst vor einem Verlust und den Störungen des Schlafes omnipräsent. Experten schreiben über die "unausgeschlafene" oder "schlaflose Gesellschaft" , Schlafstörungen gelten als ernstzunehmende "Zivilisationskrankheit" , die große Teile der Bevölkerung angreift; die Schlafmedizin hat sich als eigenständiges Feld etabliert. Jedes Jahr erscheinen unzählige Feuilletonartikel, Sonderhefte und Sonderbeilagen zum Thema Schlaf, tausende Ratgeber, Internetseiten, Fernseh- und Radiosendungen geben Tipps, wie man "richtig" und "gut" schläft. Verschiedenste Hilfsmittel sollen helfen, den "gesunden" Schlaf wieder zu finden, Therapien, Medikamente, teure Matratzen, Kopfkissen und Schlafzimmereinrichtungen versprechen den "gesunden Schlaf", und Handy-Apps sollen den perfekten Zeitpunkt fürs Aufwachen errechnen. "Richtig" schlafen ist eine wichtige Aufgabe im gesellschaftlichen Alltag, der der Einzelne viel Energie widmen kann - dabei wissen wir noch nicht einmal genau, warum wir eigentlich überhaupt schlafen, gab der Schweizer Schlafexperte Alexander Borbély noch 2005 zu.
Schlafen scheint also in vielerlei Hinsicht einen Verlust von Kontrolle mit sich zu bringen, es nimmt den Menschen regelmäßig "aus der Welt" und beraubt ihn seines Bewusstseins. Gleichzeitig ist er aber für jedes Le-bewesen ein lebensnotwendiges, ganz konkretes und sehr "weltliches" Be-dürfnis, das das Alltagsleben prägt. Jeder Mensch braucht Schlaf, und jede Gesellschaft muss dem Einzelnen Zeit und Raum für seinen Schlaf zur Verfügung stellen. An der Schlafkultur einer Gesellschaft hängen dabei nicht nur das Lebensglück und die Gesundheit des Einzelnen, Schlaf ist auch wichtige "Ressource". "Die Bedeutung des Schlafs" sei in unserer 24-Stunden-Gesellschaft "unterschätzt", warnte im Jahr 2000 etwa der Schlafforscher Jürgen Zulley auf einem Symposium zum Thema "Schlaf und Ökonomie". Die "chronologischen Bedürfnisse" des Menschen, hält er fest, müssten "sorgfältig eingeplant" werden in die Abläufe des Alltags, sonst seien "Gesundheit, Lebensfähigkeit und Leistungsfähigkeit beeinträchtigt".
Mit der Erfahrung des Verlusts von Kontrolle geht damit auch der Wunsch nach einem kontrollierten Schlaf einher, der die Bedürfnisse des Einzelnen erfüllt und dennoch "einplanbar" ist in den Ablauf des sozialen und ökonomischen Lebens. Am schlafenden Menschen werden Organi-sationsmuster und Machtverhältnisse verhandelt, die für das Funktionieren einer Gesellschaft entscheidend sind, und bei der Beschäftigung mit dem Schlaf geraten Grundstrukturen und Grundkonflikte menschlichen Zusammenlebens in den Blick. Der Ort und die Zeit, die dem Schlaf im Alltag zugewiesen werden, geben etwa Aufschluss darüber, welche Verfügungsgewalt der Einzelne hat über seine Bedürfnisse, seine Träume, seine Gesundheit und seine Arbeitskraft. Die Debatten, die Experten, Wissenschaftler, Ärzte, Theologen, Politiker und "Jedermann" um den Schlaf führen, zeigen, welche Vorstellungen vom Menschen, von seinem Wesen, seinem Körper, seiner Seele, seinem Gehirn, seinem Bewusstsein und seinem Willen vorherrschen.
Während der Schlaf lange vor allem Gegenstand der medizinischen, psychiatrischen und biologischen Forschung war, haben in den letzten Jahren auch Sozial- und Geisteswissenschaftler entdeckt, dass die Erfor-schung des Schlafs als soziales, kulturelles, politisches und ökonomisches Phänomen Rückschlüsse zulässt auf den Alltag, die Organisation und die Grundmuster einer Gesellschaft. Sie untersuchen daher die verschiedenen Schlafkulturen der Welt, fragen nach der kulturellen, sozialen und poli-tischen Bedeutung des Schlafs in den jeweiligen Ländern und Kulturen und begründen die Relevanz des Themas für die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften. Es sind erste Arbeiten erschienen, die eine Geschichte des Schlafs in verschiedenen Epochen begründen und versuchen, durch die Rekonstruktion dieser Geschichte grundlegende Erkenntnisse über vergangene Lebenswelten zu gewinnen. Hinzu kommen einige wenige meist kulturwissenschaftliche Arbeiten zur Geschichte des Bettes und des Wohnens und zur Geschichte der Nacht und der Großstadt, die ebenfalls Anknüpfungspunkte für eine Geschichte des Schlafs bieten.
Die historischen Arbeiten, die sich mit dem Schlaf und dem Traum beschäftigen, legen ihren Schwerpunkt auf die Geschichte der europäischen und nordamerikanischen Kulturen. Viele Studien nehmen dabei insbesondere den Wandel des Schlafs im Laufe des "Zivilisationsprozesses" und im Übergang von vormodernen in "moderne" Zeiten in den Blick und orientieren sich an den Periodisierungen einer Geschichte der westlichen Industriegesellschaften. Öffentlich wahrgenommen wurden in letzter Zeit die Thesen des US-amerikanischen Historikers Roger Ekirch, der eine erste Arbeit zur Geschichte des Schlafs in der Neuzeit verfasst hat. Ekirch interpretiert das heute gängige Verständnis vom Schlaf als Phänomen der industrialisierten Welt: Bis ins 18. Jahrhundert hinein, so Ekirch, sei ein wesentlich flexiblerer, zweigeteilter "vorindustrieller" Nachtschlaf verbreitet gewesen, und in der Pause zwischen dem "ersten" und dem "zweiten" Schlaf seien im Dämmerzustand "uralte Wege" zu unserer Psyche gangbar gewesen, die der Mensch in den folgenden Jahrhunderten verloren habe. Erst die Definition eines "richtigen", 8-stündigen Nachtschlafs, der sich in den industriellen Alltag einpassen lasse, habe dann jede andere Form des Schlafs als "gestört" erscheinen lassen.
Ekirchs Arbeiten weisen wie auch andere Studien zur Geschichte des Schlafs darauf hin, dass in unserer Gesellschaft als "naturgegeben" verstandene Bedürfnisse wie der 8-stündige Nachtschlaf durchaus zeitgebundenes Produkt historischer Entwicklungen sein können. Der Umgang mit dem schlafenden Menschen und die Vorstellungen, die sich Menschen vom Schlaf machten, waren veränderlich. Angesichts von Ekirchs Thesen, aber auch angesichts der für die Moderne als charakteristisch begriffenen Entwicklungen in der Wirtschaft, der Wissenschaft, im sozialen Gefüge und der politischen Organisationsform "westlicher", industrialisierter Gesellschaften scheint es nahe zu liegen, die Geschichte des Schlafs in der Moderne wie auch Ekirch als Geschichte der "Rationalisierung", der wachsenden, immer genaueren Kontrolle und der An- und Einpassung des Individuums zu erzählen. Das Wissen über den Schlaf wurde immer differenzierter, neue Theorien und Messmethoden versprachen ungeahnte Möglichkeiten, das "Geheimnis" des Schlafs zu lüften und die Zeit des "Ungeborenseins" unter Kontrolle zu bekommen. Mit den neuen Erkenntnissen und der Etablierung von "Schlafexperten" stiegen auch die Ansprüche an den Einzelnen, seinen Schlaf und seine Träume zu ordnen, zu nutzen und in den Rhythmus des industriellen Alltags einzupassen. Der Schlaf scheint so ein geradezu paradigmatischer Gegenstand zu sein für die Theorien der "Subjektivierung", die nach den Mechanismen und "Technologien" fragen, mit denen das moderne Subjekt durch die "Mikrophysik der Macht" im Alltag (sich selbst) regiert und regiert wird.
Im Anschluss an die in den Kulturwissenschaften und in der Soziologie diskutierten Konzepte zur "Genealogie des Subjekts", die meist auf die Arbeiten von Michel Foucault zurückgehen, sind seit den 1990er Jahren auch zahlreiche historische Studien erschienen, die sich einer Geschichte moderner Subjektivität, einer Geschichte des Körpers und auch der Emotionen zuwenden. Als gemeinsamen Ausgangspunkt der Arbeiten zur "Subjektivierung" sieht der Soziologe Andreas Reckwitz die Idee der "Dezentrierung des Subjekts" , die Vorstellung also, dass das Subjekt an sich sowohl in seiner körperlichen als auch in seiner seelischen Verfasstheit selbst Produkt gesellschaftlich-kultureller Strukturen und Machtverhältnisse ist. "Der Mensch erzeugt den Menschen", um diesen Satz von Karl Marx kreisten seine Überlegungen, so beschreibt es Foucault an einer Stelle selbst. Das Subjekt sei, so fasst Reckwitz die Ideen der "Subjektivierung" zusammen, hier nicht das "Individuum", das etwa die klassische Subjektphilosophie gedacht habe, sondern "die sozial-kulturelle Form der Subjekthaftigkeit, in die der Einzelne sich einschreibt" . Die Moderne betreibe "in ihren Institutionen und Diskursen eine konsequente, machtvolle Formierung ihrer Individuen zu Subjekten der Selbst- und Affektkontrolle, selbst dort wo freie Entscheidung am Werk zu sein scheint" .
Mit der Annahme, dass das moderne Subjekt durch "Mikropolitik" überhaupt erst konstituiert werde und dass die Formung des Subjekts sich immer durch Macht und Disziplinierung vollziehe, gehe jedoch, so sehen es Foucaults Kritiker, die Idee vom aufgeklärten oder zumindest aufklä-rungsfähigen, willensbestimmten, handlungsfähigen Individuum vollkom-men verloren. Foucaults "Aporie einer totalisierenden Vernunftkritik" lasse keinen Raum mehr für ein bewusstes oder widerständiges Subjekt in der modernen Gesellschaft, und die Idee eines lediglich durch die "unent-wegten Konditionierungen" hergestellten "artifiziellen" Psychischen sei dann vielleicht doch zu kurz gedacht, resümiert etwa Axel Honneth. Die Idee der "Subjektivierung", so fasst Thomas Lemke die Kritik an Foucault zusammen, könne letztlich der "Zweideutigkeit des modernen Rationalisierungsprozesses" nicht gerecht werden, der nach der Grundidee der "Dialektik der Aufklärung" das Subjekt auf der einen Seite zwar einpasst, auf der anderen Seite aber auch seine Emanzipation fordert und ermöglicht.
Eben diese "Zweideutigkeit des Rationalisierungsprozesses", der "Dop-pelcharakter von Subjektivierungsprozessen als Unterwerfung und Selbst-konstitution" kann am Beispiel der Geschichte des Schlafs untersucht und aufgezeigt werden. Vor dem Hintergrund der oben skizzierten und auch in der Geschichtswissenschaft präsenten Theorien der "Subjektivie-rung" scheint auf den ersten Blick der Gewinn von Kontrolle über den Schlaf, der in der Zeit vom späten 18. bis ins 20. Jahrhundert durch die Etablierung der modernen Wissenschaften, aber auch durch die Vorstel-lung eines seiner Sinne, Seele und Körperfunktionen mächtigen Menschen vorangetrieben wurde, vor allem disziplinierende Wirkung zu haben. Der Schlaf wurde neu organisiert, die Menschen schliefen zu vorgeschriebenen, in den industriellen Alltag eingetakteten Zeiten in "gesunden" Betten. Wer "schlafgestört" war, wurde Behandlungen und Therapien unterworfen, und auch der Traum des Einzelnen konnte nun analysiert, gedeutet und "genutzt" werden.
Doch gleichzeitig können diese Entwicklungen eben auch als Ermächtigung des Subjekts gelesen werden: Der Traum verlor spätestens durch die Ideen der Psychoanalyse seine mystische Gestalt und wurde zu einem sehr "weltlichen" Produkt des wachen Erlebens. Die Physiologie untersuchte den Schlaf als "normalen" und nachvollziehbaren körperlichen Vorgang, Schlafstörungen und Krankheiten konnten nun beschrieben, verstanden und behandelt werden. Der Mensch, so könnte man argumentieren, war auf dem Weg, sich vom mystischen "Geheimnis des Schlafs" zu befreien und auf selbstbestimmte oder zumindest bewusste Art und Weise mit seinem Körper, aber auch mit seiner träumenden Seele umzugehen.
Dieses Doppelspiel kann auch im Kontrollverlust betrachtet werden, der mit dem scheinbaren Kontrollgewinn über den Schlaf und den Traum einherging. Auf den ersten Blick bedeutet die dauernde Erfahrung des Kontrollverlusts, des fehlenden Bewusstseins während des Schlafs und der Arationalität des Schlafens und Träumens eine Einschränkung für die Emanzipationsmöglichkeiten des Menschen. Mit dem neuen, als "rational" beschriebenen Wissen wuchs die Aufmerksamkeit dafür, dass etwa gestörter oder fehlender, gar unkontrollierbarer Schlaf den Menschen anfällig und verletzlich macht. Doch andererseits, und hier wird wieder der "Doppelcharakter" der Entwicklung deutlich, braucht der Mensch die "Auszeit" während des Schlafs nicht nur, er sehnt sich auch nach ihr und kann sie genießen: Schlafen eröffnet im alltäglichen Erleben Freiräume, Träume, Triebe; Phantasien und Emotionen können ausgelebt werden. Schlafen ermöglicht ein "Ausklinken" aus dem Alltag, wer im Bett bleibt, entzieht sich den Anforderungen der Gesellschaft. Schlafen kann damit in bestimmten Situationen durchaus auch als emanzipativer Akt verstanden werden.
Geht man der Frage nach dem Gewinn und dem Verlust von Kontrolle über den Schlaf in der modernen Gesellschaft nach, erhält die Frage nach der "Dialektik der Aufklärung" also von Neuem an Relevanz. Es gilt, eben die Ambivalenz und die "Ungleichzeitigkeiten" der Entwicklung herauszuarbeiten und so der zentralen Frage nachzugehen, "wie sich das moderne Subjekt" in einer "Sequenz von Kulturkonflikten" "modellieren soll und kann". Vorstellungen von einer fortschreitenden und per se fortschrittlichen "Modernität" müssen dabei ebenso kritisch hinterfragt werden wie der Begriff der "Rationalität", der vielen Beschreibungen und Analysen der industrialisierten Gesellschaft zu Grunde liegt. Um sich von klassischen "modernisierungstheoretischen" Ansätzen abzugrenzen, betonen etwa die aktuell diskutierten "Kulturtheorien der Moderne" vor allem die "kulturelle Produktion von Rationalität" und von "Wahrheit" , die nicht einfach als Phänomene des von den Veränderungen der materiellen Basis bestimmten "Überbaus" abqualifiziert werden dürften. So ist es etwa eine Aufgabe einer Geschichte des Schlafs, nachzuvollziehen, ob, wann und warum die immer wieder vertretene, letztlich aber ahistorische Idee eines "eigentlichen", "natürlichen" Schlafs, zu dem die Menschheit mit Hilfe der "rationalen" Wissenschaft zurückkehren könne, ihre Wirkungsmacht entfaltete.
Gleichzeitig ist die Zeit seit dem Ende des 18. Jahrhunderts aber unbestreitbar auch geprägt von einschneidenden materiellen, ökonomischen, sozialen und politischen Veränderungen. Es gilt in einer historischen Analyse Ökonomie und Kultur, Wissen und Soziales, Politisches, Privates und Alltägliches miteinander zu verbinden und gegeneinander zu setzen. Der vorliegende Band versammelt daher aktuelle Arbeiten von Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Disziplinen, die in den letzten Jahren begonnen haben, sich mit verschiedenen Ansätzen und auf der Basis von unterschiedlichem Material einer Geschichte des Schlafs vom ausgehenden 18. bis zum späten 20. Jahrhundert nähern. Um die Widersprüchlichkeit der Geschichte des Schlafs und das Zusammenspiel von Ideen, Institutionen, sozialen und ökonomischen Entwicklungen an einem Beispiel fassbar zu machen und herausarbeiten zu können, nehmen die Autorinnen und Autoren des Bandes die Begriffe des Kontrollgewinns und des Kontrollverlusts zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen. Sie zeigen, dass beide Phänomene, sowohl der Gewinn von Kontrolle über das schlafende Subjekt als auch die unvermeidbare Erfahrung des Kontrollverlusts im Schlaf und bei den Versuchen zu schlafen, in sich dialektisch gedacht werden müssen. Die Autoren und Autorinnen folgen dabei der in der deutschen Geschichts-wissenschaft üblichen Setzung der Epochenschwelle zwischen der Frühen Neuzeit und der "Moderne" in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die scheinbar klare Abgrenzung einer vermeintlich "modernen" Welt ge-gen eine "vormoderne", "traditionelle" Gesellschaft soll jedoch nicht ein-fach an- und hingenommen werden. Es geht vielmehr darum, die "Un-gleichzeitigkeiten" und Gegenläufigkeit der Entwicklung herauszuarbeiten und das Zusammenspiel von Altem und Neuem, von Kontinuitäten und Brüchen nicht nur zu Beginn der Moderne, sondern auch in ihrer Entwicklung zu untersuchen.
Da sich das Feld einer gesellschaftswissenschaftlichen und historischen "kritischen Schlafforschung" gerade erst zu entwickeln beginnt, kann es hier nicht darum gehen, eine konzise, vollständige und "einheitliche" Ge-schichte des Schlafs in der Moderne zu präsentieren. Unter der gemein-samen Frage nach Kontrollgewinn und Kontrollverlust sollen stattdessen unterschiedliche Aspekte einer Geschichte des Schlafs vorgestellt werden, um die Möglichkeiten und Grenzen einer "Schlafgeschichte" auszuloten. Die Zusammenarbeit von Historikern, Literaturwissenschaftlern, Anthro-pologen und Medizinern erweist sich im Falle einer Geschichte des Schlafs als außerordentlich fruchtbar. Populäre Vorstellungen vom Schlaf werden zu einem großen Teil formuliert und tradiert in Form von literarischen Texten, als Figuren und Geschichten, in die wiederum neue oder auch überholte wissenschaftliche Ideen einfließen. Die Bedeutung, aber auch die Wandelbarkeit und Zeitgebundenheit bestimmter literarisch verhandelter Bilder vom Schlaf werden sichtbar, wenn sie in Verbindung gesetzt werden zu wissenschaftlichen Traktaten, Techniken, Institutionen und Experimenten oder zu den sich wandelnden Praktiken des Schlafens, etwa in Schlafhäusern, einsamen Hütten oder Schlaflaboren. Auf der Basis ihres vielfältigen Materials können die Autorinnen und Autoren so Ideen- und Wissensgeschichte mit Kultur- und Sozialgeschichte verbinden und aus unterschiedlichen fachlichen Blickwinkeln konstitutive Elemente einer Geschichte der Moderne diskutieren.
Im ersten Beitrag des Bandes geht Sonja Kinzler der Frage nach, auf welche Weise das säkulare Menschenbild der "Aufklärung" auch mit veränderten Vorstellungen vom Funktionieren des menschlichen Körpers und des Schlafs einherging. Sie beschreibt, wie Schlaf und Ermüdung zunächst vor allem auf der Grundlage der cartesianischen Schlaftheorie und neuer wissenschaftlicher Theorien und Methoden nicht mehr als göttliches Eingreifen in das alltägliche Leben, sondern mechanistisch als durchaus steuerbare "Körperfunktion" verstanden werden konnten. Damit seien aber auch die verbreiteten Ideen der Diätetik zur "Selbstperfektionierung nach dem Prinzip der Mäßigung" auf das Schlafen angewendet worden, wie Kinzler anhand von "Gesundheitsratgebern" des späten 18. und 19. Jahrhunderts zeigen kann. Doch die "Kontrollanstrengungen" der Aufklärer hatten Grenzen: So betonte die Romantik die Lust an Grenzerfahrung und Kontrollverlust und die im 19. Jahrhundert verbreitete "Reiztheorie" sah die Ursache für die "Unbeherrschbarkeit" des Schlafs in den schwer zu beeinflussenden äußeren Lebensbedingungen des Individuums.
Ingo Uhlig greift die Idee wachsender Kontrollphantasien und -ansprü-che im Zuge der Aufklärung auf und nimmt die in dieser Zeit in litera-rischen Texten häufig dargestellten "Schläferfiguren" in den Blick, deren viel thematisierte Ermüdung er als Nachdenken über die "Konsequenzen der Aufklärung selbst" liest. Die "Schläfer", Robespierre etwa oder Wal-lenstein, seien meist die gealterten Protagonisten einer vernunftgeleiteten Revolution, die am Ende ihres Schaffens realisierten, dass sich der in Gang gesetzte historische Prozess doch "ihrer Kontrolle und Planung" und der Steuerung entziehe. Im Gegenzug richte sich dann der "Willensakt" dieser Figuren gegen den Willen selbst - der Wunsch nach Schlaf könne als Wunsch nach einem Zustand der Willenlosigkeit gelesen werden. So würden in der Figur des "Schläfers" die Überforderung des Individuums durch Ansprüche einer neuen Weltsicht und eines neuen Geschichtsverständnisses verhandelt, die dem Menschen die Entscheidungsgewalt über die Geschicke der Welt zuschrieben und ihn aufforderten, die "Knechtschaft" des Schlafs zu überwinden.
Im Gegensatz zu den "Schläfern", so Uhlig weiter, konnten jedoch die jungen, uninformierten und weltfernen "Träumer" den Moment beherr-schen und (Kunst-)Werke schaffen, auch wenn sie dabei ebenfalls nicht in ein "zweckursächliches Verhältnis zur Welt" treten. Dass die von den Vertretern der Aufklärung als "verstörend" empfundene Erfahrung schwindenden Bewusstseins beim Einschlafen dann im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer deutlicher als produktives Moment der Befreiung und Selbsterkenntnis verstanden wurde, führt Hans-Walter Schmidt-Hannisa in seinem Text über die "Halbschlafbilder" aus, die dem Einschlafenden erscheinen und oft als "Vorboten der Träume" gedeutet werden. Während Georg Christoph Lichtenberg mit seiner Einschätzung, dass das Träumen im Schlaf ein ebenso schätzenswerter Bewusstseinszustand sei wie das Wachen, noch relativ allein gestanden habe, nutzte Jean-Paul die "Halbschlafbilder" nicht nur, um die Grenzen der Souveränität des Ich zu erforschen, sondern entdeckte das ästhetische Potential dieses Zustands. Wilhelm Dilthey begriff die "Schlummerbilder" in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gar als "Urphänomene des Dichtens", und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewann die Idee einer künstlerischen Produktivität, die auf Kontrollverlust basiert, noch einmal an Relevanz. Die Angst vor dem Verlust des Bewusstseins beim Einschlafen, so Schmidt-Hannisa, konnte schließlich als "Befreiung zum wahren Sein und als notwendige Bedingung für die Entstehung wahrer Kunst" erscheinen.
Philipp Ostens Beitrag widmet sich den Konflikten, die sich aus der auch von Schmidt-Hannisa beschriebenen Faszination für Zustände des Schlafens und Träumens und dem neuen "rationalen", wissenschaftlichen Umgang mit dem Schlaf ergaben. Am Beispiel eines südwestdeutschen Ärztekollegiums stellt Osten zunächst dar, warum mit den Ideen der Aufklärung und der frühen Naturwissenschaften im ausgehenden 18. Jahrhundert auch das Interesse für ein scheinbar überrationales Phänomen stieg, für den Somnambulismus. Die Experten hofften mit Hilfe der genauen Fallanalyse von "clairvoyanten" Schlafwandlern einen Blick auf das "Absolute" werfen zu können, denn die Somnambulen überwanden, so die Vorstellung, in ihrem Zwischenzustand die engen Grenzen des wachenden menschlichen Geistes. Am Beispiel von zwei Fällen kann Osten nachvollziehen, welche Herausforderungen die Arbeit mit jungen "Somnambulen" für die Ansprüche und Methoden einer im Selbstverständnis "rationalen" Wissenschaft mit sich brachte, die ihre Deutungshoheit etwa gegen einen tief verwurzelten Volksglauben behaupten musste und in lokalpolitische Rivalitäten zwischen herrschenden Gruppierungen verwickelt wurde. Eine "Ordnung" der somnambulen Seele und des somnambulen Körpers gelang den Experten jedoch nicht, und als Konsequenz verschwand die komplizierte Frage nach der Seele im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts schließlich ganz aus den Schlafdiskursen der süddeutschen Ärzte. Die Mitarbeiter der frühen "Gesundheitsbehörde", das zeigt Osten im zweiten Teil seines Bei-trags, wandten sich lieber den fassbaren Betten und messbaren Zeiten zu, in denen geschlafen wurde und die mit Hilfe von Hausregeln und Vor-schriften "geordnet" werden konnten.
Sowohl den im Laufe des 19. Jahrhunderts steigenden Druck zur "Ordnung" des Schlafs als auch den bereits in den "Schläferfiguren" verhandelten Wunsch von Individuen, aus ihrer Zeit "auszusteigen", nimmt auch Benjamin Reiss am Beispiel von Thoreaus berühmtem tagebuchähnlichen Text Walden aus dem Jahr 1854 in den Blick. Thoreau beschreibe mit Hilfe einer "Rethorik des Schlafs" die auch körperlich spürbaren Verwerfungen, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch den neuen, industriellen Alltag und seine neuen Rhythmen der Arbeit und des Lebens, durch Konsum und Mobilität entstanden seien und denen er in der Einsamkeit der Hütte am Waldensee zu entkommen versuchte. Thoreaus Text lasse sich lesen als Suche nach dem "natürlichen", der standardisierten Zeit der modernen Gesellschaft nicht unterworfenen Rhythmus des Lebens, der sich im Schlafen und Wachen manifestiere. Walden sei dabei auch ein Protest gegen den Griff der Moderne nach dem "Gehirn" des Individuums und gegen den Zwang zur "Objektivierung" alles Bewussten und Unbewussten, und Reiss beschreibt Thoreau als einen der ersten "hypnocritics", der die soziale Prägung des Schlafs thematisiere. Doch gleichzeitig, das arbeitet Reiss heraus, kann Thoreau durchaus als ein "moderner" Schläfer gelten. Auch er wollte den Schlaf "arbeiten lassen", er strebte nach "Wachsein", und der Aufenthalt in Walden kann eben auch als ein Versuch gelesen werden, den Schlaf auf bestimmte Art und Weise zu "kontrollieren". Denn auch Thoreau selbst, das denkt Reiss zumindest an, kämpfte mit Schlafstörungen, die ihn möglicherweise auch zum sozialen "Außenseiter" machten und die Phantasie stärkten, aus dem ganzen 19. Jahrhundert ausbrechen zu wollen.
Auch wenn der Schlaf scheinbar immer enger an die Rhythmen des modernen Lebens gebunden war und der Zwang zur "Objektivierung" von Bewusstseinszuständen wuchs, konnte doch die Wissenschaft den Schlaf noch immer nicht fassen. Den Schwierigkeiten, den Schlaf mit Hilfe wissenschaftlicher und medizinischer Erkenntnisse zu erforschen oder gar zu erklären, ging an der Wende zum 20. Jahrhundert der norditalienische Schriftsteller Italo Svevo nach. Er setzte in seinen Geschichten "augenzwinkernd eine Problematik in Szene, die nicht nur Freud, sondern auch andere psychophysiologische Autoren der Jahrhundertwende umtreibt": Die Frage nämlich, ob denn auch die psychischen Funktionen des Menschen mit den zu seiner Zeit gängigen quantifizierenden Theorieansätzen der Physiologie zu fassen seien. Svevos Geschichten vom Schlaf, resümiert Marie Guthmüller, ermöglichen damit einen Blick auf die "Fragen der Lebens- und Psychowissenschaften um 1900", der die linearen Fortschrittserzählungen einer "konventionellen Wissenschaftsgeschichte" auf die Probe stelle. Indem Svevo nämlich mit dem zwischenzeitlich als "überholt" begriffenen Konzept einer vis vitalis spiele, die durch Schlaf oder Wachen gespart oder verbraucht werden könne, entwerfe er einen "Zerrspiegel divergierender energetischer Konzepte" und weise darauf hin, dass trotz der "Revolution der Wissenschaften" grundlegende Fragen nach dem Funktionieren des menschlichen Organismus und dem "Wesen des Schlafs" noch immer unbeantwortet waren.
Die "Wissenschaft" vom Schlaf machte in den folgenden Jahrzehnten dann große Fortschritte, mit der Erfindung des EEG am Ende der 1920er Jahre konnte der Zustand der Schlafens erstmals "aufgezeichnet" werden, und im Schatten des Zweiten Weltkriegs und des Kalten Kriegs im "Zeitalter der Extreme" entstand in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schließlich die moderne Schlafforschung. Sie machte neue Formen des Wissens vom Schlaf populär, das Schlaflabor wurde zum festen Bestandteil des klinischen Alltags, aber auch der psychiatrischen, arbeitsmedizinischen und militärischen Forschung, und die Schlafexperten trugen durch vielfältiges Engagement bei zur "Verwissenschaftlichung des Sozialen", die die Geschichtswissenschaft als genuines Merkmal industrialisierter und "wissensbasierter" Gesellschaften beschreibt.
Matthew Wolf-Meyer geht in seinem Beitrag der Frage nach, auf welche Weise die Methoden und Erkenntnisse der modernen Schlafforschung das Verständnis von Schlaf in der US-amerikanischen Gesellschaft geprägt und beeinflusst haben - und vice versa. Am Beispiel von zwei Experimenten zum Schlafrhythmus aus den 1930er und 1940er Jahren zeigt Wolf-Meyer, dass die Ergebnisse einer positivistischen Schlafforschung den Schlaf der US-amerikanischen Gesellschaft bis zu einem gewissen Grad mit "herstellten". Der Schlafforscher Nathaniel Kleitman habe zunächst normative Vorstellungen vom "richtigen" Schlaf in den scheinbar jungfräulichen Raum seines Labors getragen, indem er das Design seiner Experimente zum Schlafrhythmus auf der Annahme aufbaute, dass es im menschlichen Tagesrhythmus eine einzige, konsolidierte Schlafphase geben müsse. Die Ergebnisse seiner Untersuchungen, die von vorneherein nur die eine Form des Schlafs zuließen, habe Kleitman dann als Beleg für die Regeln des richtigen Schlafs wieder zurück getragen in die Gesellschaft. Die soziale Norm des konsolidierten Nachtschlafs sei so zur "Natur" des Schlafs geworden, und das Dösen und der in mehreren Blöcken über den Tag verteilte Schlaf seien vor diesem Hintergrund je nach Interpretation als "gestört", als "pathologisch" oder "sozial deviant" klassifiziert worden. Die scheinbar "neuen" Entdeckungen moderner Wissenschaft, das zeigt Wolf-Meyers Beitrag deutlich, müssen immer in Verbindung gesetzt werden zu den Interessen und Normen der Gesellschaft, in der geforscht wird.
Auch Hannah Ahlheim untersucht, aus welchen Gründen und mit wel-chen Motiven US-amerikanische Wissenschaftler begannen, mit Schlaf oder vielmehr mit Schlafentzug zu experimentieren. Sie zeigt auf, dass im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zunächst das Interesse an Wissen über die Ermüdungserscheinungen und das Nachlassen der Leistungsfähigkeit bei Schlafentzug und Schlafmangel stieg. In den 1940er und 1950er Jahren rückten dann die "psychischen Störungen" der "insomniacs" ins Zentrum des Interesses. Vor allem das US-Militär habe sich angesichts von auch öffentlich diskutierten Berichten um Folter und "Brainwashing" US-amerikanischer Soldaten während des Korea-Krieges um neue Erkenntnisse über die Wirkungen von Schlafentzug bemüht, und die Medien nutzten die Gelegenheit, durch die Zurschaustellung schlafloser und psychisch angegriffener DJs ihre Einschaltquoten zu erhöhen. Mit Hilfe der zum Teil öffentlich inszenierten Experimente wurden, so Ahlheim, Phantasien möglicher Kontrolle über den Schlaf ebenso verhandelt wie die Ängste vor dem Kontrollverlust. Letztlich hätten die Geschichten der "insomniacs" dazu beigetragen, Vorstellungen vom "funktionierenden" und "dysfunktionalen" Menschen zu ändern und die Kontrollmethoden der modernen Schlafforschung in der öffentlichen Wahrnehmung zu etablieren.
Aus der Sicht des Schlafmediziners diskutiert Thomas Penzel im letzten Beitrag, auf welche Weise Versuche der Kontrolle des Schlafs mit den Möglichkeiten verknüpft sind, Patienten zu behandeln und zu heilen. Er beschreibt, wie sich Schlafforschung und Schlafmedizin in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben, welche Fragen Schlafforscher stellten und noch immer stellen, welche Techniken und Experimente sie entwickelten und auf welcher Grundlage sie arbeiten. Dabei wird deutlich, dass das wachsende Feld der Schlafmedizin von vielen Faktoren beeinflusst ist: Technische Entwicklungen wie etwa das EEG, computergesteuerte Signal-verarbeitung und komplizierte Geräte zur Behandlung der Apnoe spielen ebenso eine wichtige Rolle wie die Finanzierung durch die Pharmaindus-trie, die Entwicklung neuer Substanzen zur "Steuerung" des Schlafs oder die Tatsache, dass immer mehr Menschen Hilfe gegen ihre Schlafstörungen suchen. Mit der Sehnsucht nach einem "funktionierenden Schlaf" in der oft beschworenen "24-Stunden-Gesellschaft", das beschreibt Penzel, stieg auch die Notwendigkeit, Hilfe für diejenigen bereit zu stellen, die nicht schlafen können. So konnte sich das interdisziplinäre Gebiet der Schlafforschung und Schlafmedizin in westlichen Gesellschaften in den letzten Jahren fest etablieren, und ein Blick in die aktuellen Feuilletons, "Wissensseiten" und Zeitschriften zeigt, dass das Thema "Schlaf" weiterhin an Relevanz gewinnt.

Hauptbeschreibung

Der Mensch verschläft ein Drittel seines Lebens. Doch wie schläft man »richtig«? Dieser Band präsentiert erstmals eine Geschichte des Schlafs, die die Perspektiven von Historikern, Literaturwissenschaftlern, Anthropologen und Medizinern zusammenführt. Die Autorinnen und Autoren diskutieren, wie sich Wahrnehmung, Bewertung und Organisation des Schlafs vom späten 18. bis zum 20. Jahrhundert verändert haben. Sie zeigen, auf welche Weise moderne Gesellschaften versuchten, Kontrolle über den Schlaf zu gewinnen und ihn in die »rationalisierte« Welt einzufügen. Sie skizzieren den Schlaf aber auch als eine Zeit, die sich der Kontrolle und Rationalisierung immer wieder entzog und so als Bastion gegen Ansprüche und Zumutungen der Moderne verstanden werden kann.

Zitat aus einer Besprechung

"Die Historikerin Hannah Ahlheim hat Fachkollegen, Mediziner, Philosophen und Literaturwissenschaftler auf Spurensuche in Sachen Schlaf geschickt. In ihrem zunächst unscheinbaren Band, verstecken sich kostbare Erkenntnisse.", Deutschlandradio Kultur, 28.08.2014

Über den AutorIn

Hannah Ahlheim, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Göttingen.