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Produktdetails

Verlag
Irene Dorfner
Erschienen
2020
Sprache
Deutsch
Seiten
364
Infos
364 Seiten
19 cm x 12.5 cm
ISBN
978-3-9873813-6-2

Hauptbeschreibung

Bei den Ermittlungen zu zwei ungewöhnlichen Selbstmorden stoßen die Mühldorfer Kriminalbeamten auf das Vorstrafenregister des Leiters eines Jugendheimes. Wie kam der Mann an diesen Job? Was steckt hinter der Familie Amann, die Träger des Jugendheimes ist? Dann kommt heraus, dass die beiden Opfer für die Amanns gefährliche Kurierdienste für die Umsetzung eines ungeheuerlichen Plans übernommen haben…

Textauszug

1.
„Wenn das mit den Corona-Beschränkungen so weitergeht, muss noch mehr Geld aus privaten Kanälen zugebuttert werden. Die Sparmaßnahmen greifen nicht, wir verbrauchen immer noch zu viel Geld. Außerdem werden unsere Freunde in Argentinien langsam unruhig.“
Die Versammlung in diesem feudalen Umfeld war unwirklich. Männer und Frauen saßen zusammen und diskutierten über die gegenwärtige Situation und darüber, wie es weitergehen sollte. Sie wurden flankiert von Leuten in Phantasieuniformen, von denen auch das gesamte Areal und dieses Zimmer bewacht wurde. Niemand sollte stören und niemand sollte mitbekommen, was hier besprochen wurde. Größere Menschenansammlungen waren von der Bundesregierung aufgrund der Corona-Pandemie seit Wochen verboten, was hier niemanden interessierte. Die Männer und Frauen hatten ihre eigenen Gesetze und hielten sich nicht an das, was von der Bundesregierung vorgegeben wurde, da sie die nicht anerkannten. In ihren Augen gab es kein Deutschland in der aktuellen Form. Das war nur eine Übergangsregierung, die im Sinne der Siegermächte des zweiten Weltkrieges geleitet wurde und in der nur deren Wünsche vertreten wurden. Das lehnte diese Gruppe, die sich die „Amanns“ nannte, grundlegend ab. Die Amanns, die aus aktuell sechsundfünfzig Leuten bestand, lebten auf einem Areal in der Nähe des oberbayerischen Pleiskirchens selbstbestimmt und nach ihren eigenen Regeln. Niemand hier gab etwas auf das Leben, die Gesetze und Vorschriften, die außerhalb ihres Gebietes galten. Hier hatten nur sie allein das Sagen, womit sie immer wieder auffielen und mit den Gesetzeshütern aneinandergerieten. Das Grundstück gehörte der Familie Amann und die übernahm auch einen großen Teil aller anfallenden Kosten, die nicht unerheblich waren. Schon allein die Sicherheitsmaßnahmen, die aufgrund der Inakzeptanz der Bevölkerung und des Staates notwendig waren, verschlangen Unsummen. Dazu kamen Kindergarten, Schule, Sporthalle und weitere Gemeinschaftseinrichtungen, die ebenfalls nicht günstig waren. Den größten Teil verschlangen aber die Neubauten, an denen mit Hochdruck gearbeitet wurde. Trotzdem hielt man an dem fest, was hier seit über dreißig Jahren aufgebaut wurde und was stetig wuchs: Ein eigener Staat im Staat. Das war einer der Träume des verstorbenen Xaver Amann, dem man hier an allen Ecken gedachte. Es gab kein Haus, in dem nicht mindestens ein Bild von ihm hing. Die Zentrale war das herrschaftliche Anwesen der Witwe Gudrun Amann, wo auch der Sohn Harald lebte – und hier wurden auch die Versammlungen abgehalten, die von einem engen Freund des verstobenen Xaver Amann, Rolf Leidhat, wie immer geleitet wurden. Da Gudrun Amann sich zurückhielt und nur selten zu sehen war, war Leidhat derjenige, der das Zepter in der Hand hielt und der der eigentliche Chef war.
„Wir sind so kurz vorm Ziel, wir müssen durchhalten“, sagte einer derjenigen, der von Anfang an dabei war und den verstorbenen Xaver Amann noch persönlich gekannt hatte. Für alle, die erst später dazukamen, waren diese Leute etwas ganz Besonderes, weshalb man ihnen mit Hochachtung entgegentrat.
„Aus dem Amann-Vermögen gibt es bereits seit Wochen erhebliche Zuschüsse, was aber nicht die Norm sein darf.“
„Wann werden die Corona-Einschränkungen aufgehoben? Hast du etwas gehört?“
„Es kann nicht mehr lange dauern, die Bundesregierung kann uns ja nicht ewig am Gängelband führen. Flüge zu unseren Freunden werden sicher demnächst wieder stattfinden, da bin ich mir sicher. Bis wieder Unterstützung aus Argentinien eintrifft, müssen wir versuchen, es aus eigener Kraft zu schaffen.“
Es gab allgemeine Zustimmung, auch wenn man nicht wusste, wie das zu stemmen sein sollte. Viele Mitglieder der Gruppe gingen ganz normaler Arbeit nach und gaben von ihrem Lohn einen großen Teil ab, was für alle selbstverständlich war. Das funktionierte normalerweise gut und man musste nur wegen großer Anschaffungen oder außergewöhnlichen Ausgaben bei der Familie Amann vorsprechen und um Zuschuss bitten. Aber die momentane Lage war nicht die Norm, was dem Corona Shut-Down zu verdanken war, den die Bundesregierung angeordnet hatte und was bei der ganzen Gruppe mit Unverständnis und jeder Menge Wut zur Kenntnis genommen wurde. In vielen Firmen gab es Kurzarbeit, was die Löhne deutlich schmälerte und somit auch die Zahlungen in den großen Topf immer weniger wurden. Der Hass auf die Bundesregierung wurde durch diese krassen und für alle nicht nachvollziehbaren Maßnahmen nur noch gesteigert. Aber was sollten sie tun?
„Wir müssen an den Häusern für unsere Freunde weiterbauen. Wie stehen wir denn da, wenn sie zu uns kommen und dann kein Dach über dem Kopf haben?“
Wieder gab es Zustimmung. Alle waren derselben Meinung. Auch wenn das Geld für das Baumaterial zu Ende ging, musste es weitergehen. Aber wie?
„Wie geht es unseren Freunden in Argentinien?“, unterbrach eine Frau die Sorge ums Geld.
„Die sind noch schlechter dran wie wir. Die dortige Lage ist immer noch unübersichtlich. Zum Glück wurden unsere Freunde vom Corona-Virus verschont.“
„Steht die Ausreise?“
„Bis jetzt spricht nichts dagegen. Auch in Argentinien liegt das Leben brach und dort funktioniert nichts mehr. Trotzdem sind wir zuversichtlich, dass sich die Lage in den nächsten Wochen beruhigt und bis zum ersten Juli die Ausreisen wie geplant starten können.“
„Dieser Virus wurde doch gezielt eingesetzt, um die Bevölkerungszahl zu minimieren“, rief einer, worauf sofort Beifall folgte.
„Es gibt zu viele Menschen auf der Erde und auf diese Art will man einen Großteil der Menschen eliminieren.“
Es entbrannte eine heftige Diskussion, in der sich aufgestaute Wut entlud. Rolf Leidhat musste einschreiten.
„Ich bitte darum, nicht noch einmal eine solche Diskussion zu führen. Es geht heute nur darum, wie es bei uns weitergehen soll. Wie können wir unsere Kosten weiter senken? Wie können wir unsere Finanzen aufstocken?“
Es folgte Schweigen, da keiner eine Ahnung hatte, wie man die augenblickliche Situation verbessern könnte.
„Wenn wir das Sicherheitspersonal reduzieren?“
„Nein, das ist keine gute Idee. Die Bevölkerung hat sowieso schon etwas gegen uns. Wenn die merken, dass wir weitgehend ungeschützt sind, wird es Übergriffe geben. Nein, das Sicherheitskonzept steht und bleibt.“ Rolf Leidhat selbst hatte nach einem unschönen Vorfall vor drei Jahren das Sicherheitskonzept entwickelt, das sehr viel Geld gekostet hatte und immer noch kostete. Der Zaun und die vielen Kameras rund um das ganze Areal waren wichtig und mussten bleiben – ebenso das Sicherheitspersonal, das aus vierundzwanzig Personen bestand. Leidhat hatte es geschafft, dass mehr als die Hälfte dieser Leute der Gruppe beigetreten war, was ihm sehr viel Lob von Seiten der Familie Amann einbrachte.
Wieder folgte Schweigen.
„Wir könnten unseren Schmuck und Wertgegenstände verkaufen“, sagte eine unscheinbare Frau, die sich sonst nur selten zu Wort meldete. „Der Goldpreis ist momentan sehr hoch.“
„Gute Idee, Franziska. Seid ihr alle dafür, dieses Opfer für unsere Gruppe und unsere Freunde zu bringen?“
Alle stimmten zu, auch wenn viele nicht begeistert waren, da der eigene Schmuck bis dato zur Sicherheit diente. Darüber hinaus hingen an einigen Stücken Erinnerungen, die man jetzt weggeben musste. Die Gruppe ging nach Hause und kam mit allem, was sie zum Wohle der Gemeinschaft entbehren konnte, wieder zurück. Es stapelten sich Wertgegenstände und einiges an Schmuck auf dem Tisch, was geprüft und in eine Liste eingetragen wurde.
„Das reicht für die nächste Materialbestellung. Ich danke euch, auch im Namen von Gudrun Amann.“ Leidhat erwähnte Harald mit keinem Wort, was niemanden verwundert. Der Sohn der Witwe Amann wurde innerhalb der Gruppe nicht ernst genommen, wofür vor allem Rolf Leidhat gesorgt hatte. Der verwöhnte Spross war ihm schon immer ein Dorn im Auge gewesen, denn er teilte die Ansichten und Träume seines verstorbenen Vaters nicht, sondern eckte mit seinen Kommentaren und Vorschlägen überall an. Leidhat hatte es geschafft, sogar Gudrun auf seine Seite zu ziehen, indem er immer wieder gegen Harald wetterte und ihn diffamierte. Gudrun war leicht zu beeinflussen, sie dachte längst wie Leidhat und vermied es, mit ihrem Sohn über die Gruppe zu sprechen. Sobald die Sprache darauf kam, wiegelte sie ab und änderte das Thema. Auch für sie war es besser, ihn weiterhin außen vor zu lassen und nicht mit internen Angelegenheiten zu betrauen. Leidhat war es gelungen, Harald in den letzten Jahren zu beschäftigen und auf Distanz zu halten – und das musste auch so bleiben.

2.

Vier Wochen später.

Katharina Oberwinkler hielt den Druck nicht mehr aus. Sie sah keine andere Möglichkeit, als auf diesem Weg dem ganzen Wahnsinn zu entfliehen. Über das, was mit ihr geschah, hatte sie längst keine Kontrolle mehr – und gegen die, die ihr Leben bestimmten, konnte sie sich nicht wehren. In den letzten Wochen hatte sie aufgrund der Corona-Krise Ruhe gefunden, aber damit war es jetzt wieder vorbei. Die Lockerungen katapultierten sie wieder in das zurück, womit sie nichts mehr zu tun haben wollte. Je mehr Zeit verstrich, desto tiefer hatte sie sich in Dinge verstrickt, die sie nie für möglich gehalten hätte. Wenn sie sich doch nur jemandem anvertrauen könnte! Aber sie hatte niemanden, sie war völlig allein mit ihrer Schuld und ihrem schlechten Gewissen. Es gab nur Simone – und die war in derselben Situation wie sie. Katharina hatte schon vor Tagen realisiert, dass sie nur zwei Möglichkeiten hatte: Entweder ergab sie sich ihrem Schicksal und machte weiter, oder sie setzte dem Ganzen endlich ein Ende. So oder so, sie musste sich entscheiden, bevor sie noch wahnsinnig wurde. Und sie hatte sich für diesen Weg entschieden, von dem es kein Zurück mehr gab. Der Schlafentzug und die Tabletten taten ihr übriges. Diese verdammten Tabletten! Sie konnte nicht mehr ohne sie leben, sie war längst abhängig. Wenn sie die doch nur nie angenommen hätte!
Jetzt stand sie auf dem Gebäude ihrer Schule. Es war noch früh, alles war ruhig und friedlich. Sie hatte den frühen Morgen immer geliebt. Es war Mitte Juni und trotz der Trockenheit der letzten Wochen war es noch sehr frisch. Aber das störte sie nicht. Sie hatte sich sehr lange mit ihrer Situation auseinandergesetzt und hatte es sich mit ihrer Entscheidung nicht leicht gemacht. Sie war ein anständiges Mädchen, das immer tiefer in einen Sog gezogen wurde, aus dem sie längst nicht mehr herauskam. Wie war es nur so weit gekommen? Es gab Warnsignale, die sie nicht beachtet hatte. Für eine Umkehr war es längst zu spät. Sie war am Ende und konnte nicht mehr. Was hätte aus ihr alles werden können? Sie war nicht dumm und hatte Pläne gehabt, an die sie schon lange nicht mehr glaubte. Ob sie einen Mann gefunden hätte? Hätte sie Kinder gehabt? Wäre sie eine gute Mutter, eine bessere als ihre eigene geworden? Sie würde es nie erfahren. Das war ihr in der Zeit, in der sie hier auf dem Dach stand, klargeworden. Den Weg, den sie vor Monaten irrtümlich eingeschlagen hatte und aus dem sie keinen Ausweg mehr fand, war nicht ihr Weg. Sie hatte ihre Wahl getroffen, hier war ihr Leben zu Ende. Nur ein kleiner Schritt und sie hatte endlich Ruhe. An die Schmerzen, die der Sturz verursachen würde, dachte sie nicht, sie waren ihr egal. Konnten sie schlimmer sein als das, was sie durchgemacht hatte und was noch auf sie zukäme, wenn sie jetzt weitermachte? Wohl kaum.
Katharina ging bis an die Kante des Daches. Es war hell genug, um alles Vertraute um sie herum noch ein einziges Mal zu betrachten. Mühldorf! Hier war sie geboren und aufgewachsen. Dort hinten konnte sie das Dach ihres Elternhauses sehen, auch wenn es von hier aus sehr klein aussah. Ihre Kindheit war nicht schön gewesen, denn ihre Eltern waren streng, vor allem ihr Vater. Er führte die Familie mit harter Hand und sie mussten gehorchen. Ihre Mutter war immer auf der Seite des Vaters und billigte jede Maßnahme, von denen die meisten völlig überzogen waren. Katharina dachte mit Wehmut an ihren Bruder Elias, den sie im letzten Jahr zurückgelassen hatte und der jetzt allein das Elternhaus ertragen musste. Ihm gegenüber hatte sie ein schlechtes Gewissen, denn sie hätte ihn niemals alleinlassen dürfen. Aber daran konnte sie jetzt nichts mehr ändern. Sie wischte die düsteren Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf den letzten Blick über Mühldorf und auf die Stationen ihres jungen Lebens, das in wenigen Minuten vorbei war. Da war ihr Kindergarten, neben dem ihre Großeltern lebten, die sie sehr geliebt hatte. Aber die waren längst tot. Als die beiden noch lebten, war ihre Welt noch einigermaßen in Ordnung gewesen. Sie hörten ihr immer zu und verteidigten sie vor ihren Eltern, wenn es wieder Ärger gab. An ihre Eltern wollte Katharina jetzt nicht schon wieder denken, denn die beiden hatten sie nie geliebt und durften nicht Teil ihrer letzten Gedanken sein. Sie wischte die düsteren Gedanken beiseite, wobei sie den rechten Arm benutzte. Dadurch kam sie ins Straucheln. Nein! Noch durfte sie nicht in die Tiefe stürzen. Sie musste sich auf das konzentrieren, was sie gerade vor Augen hatte, denn auf dieses Abschiedsszenario wollte sie auf keinen Fall verzichten. Das waren ihre letzten Momente und die wollte sie wie geplant verbringen. Das Dach des großen Supermarktes war deutlich zu erkennen. Sie konnte sogar sehen, dass ein Lastwagen gerade darauf zufuhr. Dort hatte sie in den letzten drei Jahren während der Schulferien gejobbt und jetzt wurde ihr bewusst, dass das sehr schöne Stunden gewesen waren. Sie wurde von den Kollegen respektiert und von den Kunden geschätzt, was ihr sehr gutgetan hatte. Dass Tränen über ihr Gesicht liefen, merkte sie nicht. Mit den Augen suchte sie hektisch nach weiteren Gebäuden, an die sie sich gerne erinnern würde. Es blieb nur noch ihre Schule, die sie für ihren Selbstmord ausgesucht hatte. Das war der Ort, an dem sie am liebsten gewesen war, auch wenn es nicht nur schöne Erinnerungen gab. Trotzdem fühlte sie sich hier am wohlsten und deshalb war es für sie nur logisch, dass sie von hier aus in den Tod sprang. Sie sah sich das Schulgelände nochmals genau an. Dort hinten war der Platz der coolen Leute, zu denen sie nie gehört hatte. Sie erinnerte sich an ihren Übertritt ans Gymnasium. Was war sie stolz gewesen! Ihre Eltern waren nicht an ihrer Seite, dafür aber die Großeltern. Die beiden schenkten ihr einen neuen Schulranzen, den sie heute noch besaß und der ihr heilig gewesen war. So sehr sich Katharina auch bemühte, sich nochmals an alle guten Dinge ihres Lebens zu erinnern, es gelang ihr nicht. Immer wieder nahmen die düsteren Gedanken Besitz von ihr. Sie gab auf. Sie nahm die Tabletten aus ihrer Jackentasche und steckte sie alle in den Mund. Normalerweise musste man die mit Wasser herunterschlucken, aber das war jetzt nicht wichtig. Sie zerkaute sie und wartete, bis der Mund leer war. Sie hätte eine Flasche Schnaps mitnehmen sollen, aber daran hatte sie nicht gedacht. Heute früh hatte sie sich aus dem Drecksloch, das in den letzten Monaten ihr Zuhause gewesen war, hinausgeschlichen. Niemand nahm Notiz von ihr. Jetzt stand sie hier und wartete auf die Wirkung der Beruhigungstabletten, auch wenn sie die nicht gebraucht hätte. Aber sicher war sicher. Sie wollte nicht riskieren, dass sie es sich doch noch anders überlegte.
Ob es ein Leben nach dem Tod gab? In wenigen Augenblicken würde sie es erfahren. Sie wurde ruhiger, die Tabletten wirkten. Jetzt war es so weit. Sie zog die frische Luft noch ein einziges Mal tief in ihre Lungen. Sie lächelte, als sie den entscheidenden Schritt tat.

3.

„Wenn Sie es noch ein einziges Mal wagen sollten, meine Verlobte zu beleidigen, werden Sie mich von einer sehr unangenehmen Seite kennenlernen“, drohte Leo Schwartz dem Staatsanwalt Eberwein und war dabei sehr laut geworden. „Mich können Sie angreifen, damit habe ich kein Problem, aber meine Verlobte lassen Sie gefälligst in Ruhe!“ Der fünfundfünfzigjährige gebürtige Schwabe war außer sich.
„Ich würde Ihre Verlobte niemals persönlich beleidigen, das verbitte ich mir!“ Der Staatsanwalt war sehr aufgebracht. Er hatte darauf bestanden, eine Besprechung der Kriminalpolizei Mühldorf einzuberufen und persönlich daran teilzunehmen, worauf keiner scharf war und das wusste er auch. Aber das war ihm egal. Seit einigen Tagen wurde er von zwei Journalisten bedrängt, die an der Kobalt-Sache des letzten Falles dran waren. Auf Schritt und Tritt wurde er von den beiden belästigt – und eine davon war Sabine Kofler, die Verlobte von Hauptkommissar Leo Schwartz. Eberwein hatte gehofft, Schwartz auf seine Seite ziehen zu können und ihn dazu zu bringen, auf Frau Kofler soweit einzuwirken, ihn endlich in Ruhe zu lassen. Aber das ging völlig in die Hose. Dieser sture Schwartz hatte das Anliegen in den falschen Hals bekommen und die Unterhaltung war in einen handfesten Streit ausgeartet.
Dass Leo und seine Sabine bereits mehrfach wegen der Recherchen und der in seinen Augen überzogenen Bericht-erstattung aneinandergeraten waren, wusste außer Hans niemand. Warum sollte Leo damit hausieren gehen? Der Fall in Gars lag längst bei den Akten, auch wenn der Mörder des Toten in der Gefriertruhe noch nicht gefunden wurde. Das war einer der seltenen ungelösten Fälle, mit denen man leben musste. Anstatt zum Alltag zurückzukehren und den Kobalt-Fall, der schluss-endlich gelöst wurde, endlich ruhen zu lassen, wühlte Sabine mit ihrem Kollegen Silvio Bernhardt die Sache immer wieder auf und sie wurde in den Medien breitgetreten. Es wurden die ersten Stimmen von Seiten der Bevölkerung laut, die die Herausgabe aller Informationen bezüglich des Kobalt-Falles und den Hintergründen forderten, was Rudolf Krohmer, der Chef der Mühldorfer Polizei, natürlich nicht zulassen konnte. Wo käme man denn hin, wenn man auf Verlangen Unbeteiligter jede Kleinigkeit preisgeben würde? Nein, die Akte Gars war vorerst zu, dafür würde er persönlich sorgen. Die Verantwortlichen waren längst den Behörden zugeführt worden und um alles andere kümmerten sich jetzt die Gerichte. Krohmer hörte dem Streitgespräch zwischen Schwartz und Eberwein zu, wobei er immer wütender wurde. Er verstand beide Männer, aber langsam war es auch genug. Es wäre ihm auch lieber, wenn die Journalisten endlich Ruhe geben würden, aber darauf hatte er keinen Einfluss. Jegliche Anfragen, die auf seinem Tisch landeten, hatte er abgeschmettert, wofür auch seine Sekretärin sorgte. Dass es sich bei einer der Journalisten um Schwartz‘ Verlobte handelte, war ihm zwar unangenehm, aber das änderte nichts an seiner Entscheidung. Es gab einen Todesfall, der heute früh gemeldet wurde und der jetzt im Vordergrund stand.
Die beiden Streithähne waren kurz davor, aufeinander loszugehen. Jetzt war das Maß voll.
„Ruhe, verdammt nochmal! Setzen Sie sich, und zwar beide! Was ist denn los mit Ihnen? Können Sie sich nicht wie Erwachsene benehmen?“
„Was erlauben Sie sich?“, rief Eberwein, während sich Leo wieder setzte.
„Das hier ist meine Polizei und hier bestimme ich die Regeln! Wenn Sie sich ruhig verhalten und anständig benehmen, können Sie bleiben. Wenn nicht – dort ist die Tür!“
„So können Sie nicht mit mir umgehen! Ich bin der Staatsanwalt!“
„Auch als Staatsanwalt müssen Sie sich zusammenreißen! Setzen Sie sich endlich, damit wir weitermachen können. Falls Sie es vergessen haben: Wir haben eine Tote, um die wir uns kümmern müssen. Wenn Sie private Diskrepanzen mit der Verlobten des Kollegen Schwartz haben, gehört das hier nicht her. Klären Sie das bitte im privaten Rahmen.“ Krohmer war stinksauer und musste tief durchatmen. Der Tod des Mädchens ging ihm sehr nahe, denn es handelte sich um eine ehemalige Schulkameradin seines Ziehsohnes. Mason war jetzt siebzehn Jahre alt und besuchte die elfte Klasse des König-Karlmann-Gymnasiums in Altötting, auf das er nach der Hauptschule gewechselt hatte – und da waren er und Katharina in einer Klasse gewesen. Während Mason das musische Gymnasium bevorzugte, blieb Katharina in Mühldorf und ging auf das hiesige Gymnasium. Obwohl Mason in seinem jungen Leben bereits viel hatte durchmachen müssen, waren seine schulischen Leistungen immer hervorragend gewesen. Er gehörte zu den Besten seiner Jahrgangsstufe und wusste genau, was er wollte – und das machte Krohmer sehr stolz. Der Junge war nach einer schwierigen Phase umgänglicher geworden, was das Familienleben deutlich entspannte. Krohmers Frau Luise und Mason hatten inzwischen ein sehr herzliches Verhältnis, worauf er oft neidisch war, denn er selbst spürte die Distanz zwischen ihm und dem Jungen ganz deutlich. Als die schreckliche Nachricht eintraf, dass sich das achtzehnjährige Opfer Katharina Oberwinkler vom Dach der Turnhalle der Schule gestürzt hatte, war Krohmer schockiert. Er kannte das Mädchen zwar nur flüchtig, aber er war tief getroffen von dem Selbstmord. Es war selbstverständlich, dass die Umstände völlig aufgeklärt werden mussten, auch wenn der Staatsanwalt nicht seiner Meinung war. Für Eberwein war das ein Selbstmord, der zwar tragisch war, die Mordkommission aber nicht zu interessieren hatte. Krohmer war anderer Meinung und hatte die Ermittlungen auf seine Kappe genommen. So lange die genauen Umstände des Selbstmordes nicht geklärt waren, fühlte er sich verpflichtet, sich darum zu kümmern – und niemand widersprach ihm. Es lag kein weiterer Mordfall an, weshalb nichts dagegen sprach, sich um die Sache zu kümmern. Krohmer hatte es übernommen, sofort mit seinem Ziehsohn zu sprechen, was für beide nicht leicht war und dem Chef der Mühldorfer Polizei immer noch in den Knochen steckte. Mason und Katharina waren keine engen Freunde gewesen, trotzdem war der Junge sehr bestürzt – so wie alle anderen auch.
„Sie haben mit den Eltern gesprochen?“, wandte sich Krohmer an Hans Hiebler, nachdem der Staatsanwalt endlich Ruhe gab und sich gesetzt hatte.
Hans nickte und schluckte, denn das war kein einfaches Gespräch gewesen. Auch Leo war immer noch sehr betroffen. Die Kriminalkommissare hatten beide Elternteile zuhause angetroffen. Als die verstanden, dass ihre Tochter nie wiederkommen würde, war der Vater am Boden zerstört. Er schrie und weinte, während die Mutter nichts sagte und keine Miene verzog. Diese Reaktion erschreckte vor allem Hans, denn das verhieß nichts Gutes. Hans forderte einen Arzt und einen Seelsorger an, mehr konnte er für beide nicht tun. Als die Kommissare gehen wollten, tauchte der Bruder des Opfers auf. Auch er war fassungslos, aber ansprechbar.
„Den Eltern und dem Bruder geht es natürlich nicht gut, das ist logisch. Soweit wir verstanden haben, ist Katharina Oberwinkler kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag bei Nacht und Nebel von zuhause ausgezogen, das war im letzten Jahr im August. Wo sie lebte, konnten uns die Eltern nicht sagen, der Bruder weiß auch nichts. Die Eltern waren völlig durch den Wind, weshalb wir sie vorerst in Ruhe gelassen haben. Wir stehen mit dem Arzt in Kontakt. Der sechzehnjährige Bruder hatte nach seinen Aussagen nur flüchtigen Kontakt zu seiner Schwester. Warum das so war, hatte er nicht erklärt. Er sagte aber, dass es in seinen Augen keine Anzeichen für einen Suizid gab. Das Opfer war eine gute Schülerin und hatte offenbar einen akzeptablen Freundeskreis.“
„Was ist denn das für eine Aussage?“, mischte sich der Staatsanwalt ein, der nach dem Rüffel beleidigt war. „Was ist denn ein akzeptabler Freundeskreis?“
„Keine Chaoten oder Spinner. Einfach ganz normale, junge Leute, die ihre Freizeit gemeinsam verbracht haben. Das ist die Aussage des Bruders und selbstverständlich werden wir das noch überprüfen.“
„Und niemand weiß, wo das Opfer gelebt hat? Das kann ich mir nicht vorstellen!“ Krohmer war schockiert von diesen Familienverhältnissen.
„Wir kümmern uns darum und werden es herausfinden“, sagte Leo, der ähnlich dachte wie der Chef.
„Irgendwelche Hinweise auf dem Handy oder Laptop?“
„Das ist etwas, was wir nicht verstehen“, sagte Leo. „Wir haben kein Handy, Tablet und keinen Laptop gefunden. Die Eltern sagten, dass ihre Tochter nichts davon besaß, was der Bruder bestätigte. Die Eltern legten immer großen Wert darauf, dass ihre Kinder ohne schädlichen Einfluss aufwuchsen, was Handys, Fernsehen und Computer einschloss.“
„In der heutigen Zeit schwer vorstellbar“, murmelte Krohmer. „Allerdings wissen wir nicht, ob es Laptop und Handy nach dem Auszug gab.“
„Wir konnten einige wenige Mitschüler befragen, die alle aussagten, dass Katharina Oberwinkler sehr wohl ein Handy besaß. Wir haben es aber nicht gefunden.“
„Wieso wurden nur einige und nicht alle Mitschüler befragt?“, wollte der Staatsanwalt wissen und alle spürten den vorwurfsvollen Unterton.
„Weil wir hier sitzen, anstatt unserer Arbeit nachzugehen“, maulte Leo, ohne den Staatsanwalt oder den Chef dabei anzusehen. Leo hielt die Besprechung für reine Zeitverschwendung, denn noch waren sie nicht wirklich weit gekommen. Er spürte, dass bei dem Suizid etwas nicht stimmte und wollte herausfinden, ob er richtig lag.
„Das hätten Sie alles längst erledigen können“, pampte Eberwein zurück. „Es wäre genug Zeit gewesen, alle Mitschüler, Lehrer und Freunde aufzusuchen und zu befragen.“
„Die Tote wurde heute früh um sechs Uhr gefunden. Der Leichenfund hatte sich herumgesprochen und es hatten sich trotz der Kontaktbeschränkungen durch das Corona-Virus einige Leute eingefunden, die wir alle befragt haben. Als wir damit durch waren, mussten wir erst die Eltern verständigen, womit Sie hoffentlich einverstanden waren. Wir mussten verhindern, dass die Todesnachricht zu den Eltern durchdringt, bevor wir sie selbst überbringen konnten. Wir haben uns erst um elf Uhr von den Eltern verabschiedet. Jetzt ist es kurz nach dreizehn Uhr und diese Besprechung zieht sich unnötig in die Länge. Wann hätten wir mit den Mitschülern und Lehrern sprechen sollen?“ Leo war außer sich. Diesen Vorwurf musste er sich vom Staatsanwalt nicht gefallen lassen, das war eine bodenlose Frechheit. Während der von allen Kriminalbeamten Unmögliches erwartete, saß er hier und hielt alle nur auf.
„Es wäre Ihr Job gewesen,…“
„Jetzt kommen Sie mal runter!“, schritt Krohmer jetzt ein, der immer wütender wurde. Die heutige Laune des Staatsanwaltes war für ihn nur schwer zu ertragen. „Versuchen Sie, das Handy des Opfers zu finden“, sagte Krohmer so ruhig wie möglich zu Leo.
„Wir sind dabei.“
„Wie gehen Sie jetzt vor?“
„Wir werden alle Schüler und Lehrer befragen. Man wartet auf uns in der Schule.“
„Gut. Versuchen Sie, nochmals mit den Eltern zu sprechen.“
„Selbstverständlich.“
„Gibt es von Ihrer Seite noch etwas?“ Krohmer sah seine Leute an. Ihm war klar, dass der Fall allen an die Nieren ging.
„Ich hätte einen Vorschlag“, sagte Anton Graumaier mit einem Lächeln. Anton, genannt Toni, war zur Aushilfe in Mühldorf. Eigentlich hätte er längst wieder gehen können, aber Krohmer nutzte dessen Anwesenheit aus, um seinen eigenen Leuten Urlaub gewähren zu können. Nachdem die Kollegin Diana Nußbaumer aus Thailand zurück war und auch der Kollege Schwartz einige Tage Urlaub genossen hatte, war jetzt die Leiterin der Mordkommission Tatjana Struck dran, die gemeinsam mit ihrem Freund zwei Wochen in Italien verbrachte. Aufgrund der dortigen Corona-Situation saßen Frau Struck und ihr Begleiter immer noch in Italien fest, da beide immer noch Anzeichen einer Erkrankung zeigten und die Ärzte sie noch nicht entließen. Krohmer hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, beide nach Hause zu bringen, was ihm aber bisher nicht gelang. Wenn Frau Struck wieder zurück war, musste sie sehr wahrscheinlich zwei Wochen in Quarantäne verbringen, was deren Einsatz weiter hinausschob. Nach ihrer Rückkehr war auch für Graumaier die Zeit in Mühldorf vorbei, das wussten alle. Trotzdem mussten sich alle mit der momentanen Situation zurechtfinden, an der sich so schnell nichts ändern würde.
„Bitte, wir hören“, stöhnte Krohmer, der den Neuen nicht wirklich mochte. Er selbst hatte ihn mehrfach dabei erwischt, als er mit Zeuginnen und auch Kolleginnen flirtete, was er nicht guthieß. Graumaier brachte zu viel Unruhe in seine Mordkommission und in die ganze Polizei, was ihm mehr und mehr auf die Nerven ging. Wenn dieser verdammte Corona-Mist endlich vorbei wäre, könnte alles wieder so laufen wie vorher – aber noch war es nicht so weit. Die Lockerungen in Bayern kamen nur zaghaft und es würde noch lange dauern, bis ein einigermaßen normales Leben wieder möglich war.
Auch die anderen stöhnten darüber, dass die Besprechung durch Tonis Unterbrechung noch mehr in die Länge gezogen wurde. Konnte der Typ nicht einfach die Klappe halten?
„Wenn wir keine ausreichenden Informationen bekommen, sollten wir jemanden Undercover in die Schule einschleusen, der sich dann dort umhören könnte.“ Toni sah in die Runde und war gespannt, wie sein Vorschlag aufgenommen wurde. Er dachte natürlich an sich selbst, denn einen Undercover-Einsatz hatte er noch nie machen dürfen und das reizte ihn. Außerdem wäre er dafür geradezu perfekt, denn immer wieder wurde ihm bestätigt, dass er für seine zweiunddreißig Jahre noch sehr, sehr jung aussah.
Leo und Hans lächelten nur, sie nahmen den Vorschlag nicht ernst. Diana sagte nichts dazu. Sie war von dem Anblick des Opfers immer noch geschockt, denn so etwas hatte die Neunundzwanzigjährige noch niemals vorher gesehen. Das junge Mädchen lag völlig verdreht auf dem Pflaster. Das viele Blut hatte sie erschreckt, aber auch die weit aufgerissenen Augen des Opfers, die sie anzustarren schienen, würden sie noch lange verfolgen.
„Das ist doch Schwachsinn!“, rief der Staatsanwalt, noch bevor Krohmer etwas sagen konnte. „Der Suizid des Mädchens ist tragisch und ich bin trotz anderer Ansicht damit einverstanden, dass wir uns um die Umstände kümmern. Das sind wir nicht nur den Eltern, sondern auch der Bevölkerung schuldig. Allerdings handelt sich immer noch um einen Selbstmord und nicht um Mord, das dürfen wir nicht vergessen! Dazu sind wir alle noch mittendrin in der Corona-Krise, aus der wir auch nicht so schnell herauskommen. Wie sollte Ihr Vorschlag in der Praxis aussehen? Es werden vorerst nur die Schüler unterrichtet, die kurz vor dem Abschluss oder einem Übertritt stehen – wie würde da ein Außenstehender dazu passen? Nein, Kollege Graumaier, es wird hier keinen Undercover-Einsatz geben! Ihr Vorschlag in allen Ehren, aber das ist dann doch zu viel des Guten! Und wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf: Sie sehen zu viele Krimis und Actionfilme.“ Eberwein lachte über seinen eigenen Witz, aber außer ihm lachte niemand.
Krohmer dachte ähnlich, war aber auch wütend über die Art und Weise, wie der Staatsanwalt mit dem Vorschlag umging.
„Vielen Dank, Kollege Graumaier. Ich habe mir Notizen gemacht und wir kommen eventuell auf Ihren Vorschlag zurück. Bis dahin bitte ich, dass Sie sich alle im Umfeld des Opfers umhören. Ich muss nicht betonen, dass Sie so behutsam wie möglich vorgehen.“
Alle nickten, denn den Kriminalbeamten war klar, dass man besonders bei einem jungen Opfer sehr umsichtig vorgehen musste.
Krohmer stand auf und gab somit das Zeichen, dass die Besprechung zu Ende war.

Die Kriminalbeamten waren froh darüber und konnten endlich wieder an die Arbeit gehen, auch wenn die sehr unangenehm werden würde.
„Ist es okay für dich, wenn ich mit Leo zur Schule des Opfers fahre? Toni und du könntet nochmals die Eltern und den Bruder befragen“, sagte Hans zu Diana und zeigte dabei auf Graumaier.
„Das geht für mich in Ordnung. Und Toni ist für mich kein Problem, mit dem werde ich fertig.“
„Wenn er frech wird, sagst du es mir, einverstanden?“
„Wenn er frech wird, wird er es sehr bereuen, das kannst du mir glauben.“

„Es wird Zeit, dass der Kollege Graumaier wieder geht“, sagte Eberwein zu Krohmer, als sie allein waren. „Er passt einfach nicht nach Mühldorf.“
„Ich möchte nicht, dass Sie sich nochmals in die interne Arbeit der Polizei einmischen“, sagte Krohmer, ohne auf das Gesagte des Staatsanwaltes einzugehen.
„Ich habe mich eingemischt? Was habe ich denn gesagt?“
„Bei mir dürfen alle Kollegen vorbehaltlos alles sagen und brauchen sich nicht dumm anreden zu lassen. Ich schätze einen offenen Umgang untereinander, den ich mir von niemandem kaputtmachen lasse, auch nicht von Ihnen!“
„Sie meinen diesen Undercover-Einsatz? Das war äußerst dämlich, das müssen Sie zugeben!“
„Das zu bewerten gehört nicht zu Ihren Aufgaben und das steht Ihnen auch nicht zu. Sie dürfen gerne Anregungen geben und wir werden Sie umfassend informieren, aber in unsere Arbeit werden Sie sich nicht mehr einmischen. Haben wir uns verstanden?“
„Was sind Sie denn heute so gereizt?“
„Ich bin gereizt? Sie haben hier während der von Ihnen einberufenen Besprechung zum Tod eines jungen Mädchens mit dem Kollegen Schwartz einen Streit angezettelt und massiv auf ihn eingewirkt – und das zu einem Thema, das nicht hierhergehört. Das war sehr unprofessionell, Herr Doktor Eberwein!“
„Ich fühle mich von den Journalisten in die Ecke gedrängt, vor allem von Frau Kofler. Diese Frau ist echt die Pest! Hatten Sie schon einmal mit ihr zu tun? Ich denke nicht, sonst würden Sie mich verstehen. Sie taucht überall auf und stellt mir die unverschämtesten Fragen. Denken Sie, dass sie mir auch nur einen Schritt entgegenkommt? Nein! Sie belästigt nicht nur mich, sondern auch meine Mitarbeiter. Sie hat es gestern sogar gewagt, bei mir zuhause aufzutauchen und mit meiner Frau zu sprechen. Es besteht immer noch eine Kontaktbeschränkung aufgrund des Corona-Virus. Meine Frau und ich gehören zur Risikogruppe und diese unangenehme Person taucht einfach bei mir zuhause auf! Ich finde es geradezu unverschämt, was sich Frau Kofler erlaubt! Zum Glück kam ich rechtzeitig nach Hause und konnte Schlimmeres verhindern. Frau Kofler muss gebremst werden!“
„Dann sagen Sie das ihr und nicht dem Kollegen Schwartz!“
„Sie haben gut Reden…“
„Gut, dann werde ich jetzt zu Ihrer Frau gehen und auf sie einwirken, dass sie Sie zur Vernunft bringt!“
„Was hat denn meine Frau…“
„Wenn Sie sich das ganz in Ruhe durch den Kopf gehen lassen, werden Sie verstehen, was ich damit sagen möchte. Sie haben eben betont, dass Sie zur Risikogruppe gehören. Sehen Sie zu, dass Sie sich in Sicherheit bringen. Guten Tag, Doktor Eberwein!“

4.

Leo und Hans standen im Klassenraum der 12. Jahrgangsstufe und alle Schüler sahen sie an. Die Gesichtsmasken, die an dieser Schule Pflicht waren, gaben für Leo und Hans ein erschreckendes Bild ab. Die Kriminalbeamten hatten ihre Masken dabei, trugen sie aber nicht, da sie genug Abstand zu den Schülern und der Lehrerin hielten. Außerdem mussten sie eine Ansprache halten und gewährleisten, dass jedes Wort verstanden wurde, was ohne Maske einfacher war.
Viele Schüler hatten geweint, einige wollten Fragen stellen und reckten die Arme, andere grinsten dämlich und wollten damit ihre Unsicherheit überspielen – oder der Tod der Mitschülerin war ihnen schlichtweg egal. Da Leo im Umgang mit Jugendlichen nicht wirklich geschickt war, überließ er die Befragung vorerst Hans.
„Mein Name ist Hans Hiebler und das ist mein Kollege Leo Schwartz. Wir sind beide von der Kriminalpolizei. Wenn ihr erlaubt, würde ich vorerst noch keine Fragen beantworten, die könnt ihr uns gerne später stellen.“ Die Hände gingen wieder nach unten und ein Murmeln ging durch die Reihen.
„Welche Abteilung bei der Kripo?“, rief einer aus der hintersten Reihe.
„Mordkommission“, antwortete Hans wahrheitsgemäß.
„Die Kathi wurde ermordet?“ Die Lehrerin Brigitte Seizinger war erschrocken. Als sie ihre Frage gestellt hatte, bereute sie sie sofort, denn ihre Schüler reagierten darauf und alle sprachen durcheinander.
„Ich bitte um Ruhe!“, rief Leo, der wieder Ordnung in die Klasse bringen musste. Er hatte die lautere Stimme und die zeigte Wirkung. „Ja, wir sind von der Mordkommission, was aber nicht automatisch bedeutet, dass wir es mit Mord zu tun haben. Es ist völlig normal, dass wir bei einem vermeintlichen Suizid ermitteln. Wir wollen die Gründe für die Tat herausfinden, das sind wir der Familie und dem gesamten Umfeld der Toten schuldig. Bitte hört meinem Kollegen zu und beantwortet die Fragen.“
Sofort war es still und Hans konnte fortfahren.
„Wer von euch war enger mit Katharina befreundet?“
Alle schüttelten die Köpfe oder starrten Hans an, der darauf erschrocken reagierte. Konnte es sein, dass keiner der Mitschüler mit dem Opfer befreundet war?
„Ich habe sie manchmal mit einem Mädchen aus der 11b gesehen. Ich glaube, sie heißt Simone“, sagte ein Mädchen in der ersten Reihe.
„Hat jemand etwas gesehen oder gehört, das uns weiterhelfen könnte?“
„Die Kathi hat oft die Schule geschwänzt, die war ja kaum noch da“, sagte ein Mädchen in der zweiten Reihe.
„Ja, das kann ich bestätigen“, sagte Frau Seizinger. „Wir waren sogar gezwungen, der Schülerin einen Verweis zu erteilen, da sie nur noch selten am Unterricht teilnahm.“
„Haben Sie eine Erklärung für ihr Fernbleiben?“
„Nein, meine Kollegen und ich konnten das Verhalten nicht nachvollziehen. Katharina war immer eine vorbildliche und zuverlässige Schülerin gewesen. Kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag hatte sie sich sehr verändert.“
„Die Kathi wurde mehrmals abgeholt. Von einem Wagen mit Altöttinger Kennzeichen“, sagte ein Schüler in der letzten Reihe.
„Das habe ich auch gesehen!“
„Ich auch!“
„Was ist daran so ungewöhnlich?“ Leo verstand nicht.
„Die Kathi wurde nie gebracht oder abgeholt, ihre Eltern haben noch nicht einmal ein Auto. Wir haben das im letzten Jahr rausgefunden und uns darüber lustig gemacht. Kathis Eltern sind komische Leute, die erlauben fast nichts. Außerdem sind die ziemlich assi.“
„Die Kathi war irgendwie komisch“, fügte ein anderer hinzu.
„Komisch? Kannst du das erläutern?“, hakte Leo nach, der nicht im Traum daran dachte, diese Schüler zu siezen.
„Die sah mit ihren billigen Klamotten immer beschissen ärmlich aus, eben echt unterste Schiene“, sagte derselbe Junge aus der letzten Reihe und lachte, woraufhin einige einstimmten. „Außerdem tauchte sie immer noch mit einem Schulpack aus der Grundschulzeit auf. Ich glaube, die Eltern haben keine Kohle. Außerdem schien es ihnen egal zu sein, wie ihr Kind herumläuft und ob es dazugehörte. Zu allem Übel durfte sie nichts machen was Spaß macht. Eben voll assi“, wiederholte er seine Aussage von vorhin. Es war offensichtlich, dass er das Wort „assi“ gerne aussprach. Einige lachten. Diejenigen, die nicht mitlachten, machten ein betrübtes Gesicht.
Leo war wütend. Wenn er sich umsah, konnte er sich vorstellen, dass es ein Kind aus einfachen Verhältnissen hier sicher nicht leicht hatte.
Hans wusste, wie es unter Schülern zugehen konnte, das war früher nicht anders, auch wenn er zu den Klassenclowns gehörte und immer beliebt war. Er versuchte zu beschwichtigen, um noch mehr über die Tote zu erfahren. Aber sehr viel mehr kam dabei nicht raus. Er entließ die Schüler, was alle erfreut aufnahmen. Der Tag war sehr aufregend gewesen. Während einige direkt nach Hause gingen, blieben andere auf dem Schulgelände, da noch zwei Nachmittagsstunden in Wahlpflichtfächern und Nachhilfestunden anstanden, auf die auch heute die Lehrer bestanden. Aufgrund der Corona-Pandemie wurde sehr viel Unterrichtsstoff versäumt, der auf diese Weise nachgeholt werden sollte.

„Kann es wirklich sein, dass das Opfer keine Freunde in der Klasse hatte?“, fragte Hans die Lehrerin, nachdem er die Liste aller Schüler an sich genommen hatte.
„Das weiß ich nicht, dazu kann ich nichts sagen. Ich unterrichte zweiunddreißig Schüler allein in dieser Klasse, dazu habe ich weitere Klassen zu unterrichten. Es ist unmöglich, dass ich alles über jeden Schüler weiß.“
„Kennen Sie die Schülerin Simone, über die vorhin gesprochen wurde?“
„Leider nicht.“
„Wie war die Schülerin so? Wie ist Ihr persönlicher Eindruck?“
„Die Kathi hatte es nicht leicht. Sie durfte zu keinem Schulausflug mit, obwohl das Pflicht gewesen wäre. Wir haben uns im Lehrerkollegium einmal darüber unterhalten. Es wäre für die Schülerin gut gewesen, an den Schulausflügen teilzunehmen, zumal sie Probleme hatte, sich in die Klasse zu integrieren. Sie haben die Schüler ja selbst gehört. Immer wieder gab es Sticheleien, Streiche und Auseinandersetzungen, die während einer Klassenfahrt vielleicht hätten geklärt werden können.“
„Was war mit den Eltern? Hätte man nicht vernünftig mit ihnen sprechen können?“
„Ich kenne sie kaum. Zu Elternabenden waren sie nie gekommen. Vor einem Jahr kamen sie gemeinsam zu einer Besprechung, nachdem es einen unschönen Vorfall auf der Schultoilette gab. Der Rektor hatte auf ein Gespräch bestanden, bei dem er aber aufgrund anderer Verpflichtungen nicht persönlich anwesend sein konnte und deshalb habe ich das übernommen. Die Eltern waren während des Gespräches sehr zurückhaltend. Ich hatte den Eindruck, dass sie alles sehr schnell hinter sich bringen wollten.“
„Was genau war vorgefallen?“
„Die Kathi wurde mit Fäkalien beschmiert und ich war gezwungen, sie nach Hause zu schicken. Ja, das war ein dummer Streich und so etwas sollte in einer elften Klasse nicht mehr vorkommen. Selbstverständlich wurden die beiden verantwortlichen Schüler bestraft.“
„Lassen Sie mich raten: Die Strafe ist sehr milde ausgefallen.“ Leo konnte sich vorstellen, wie man auf Schulen mit solchen Vorfällen umging.
„Beide Schüler durften eine Woche nicht am Unterricht teilnehmen, außerdem wurden die Eltern informiert. Ich halte das für eine angemessene Strafe.“
„Naja“, sagte Leo, der zwar damit gerechnet hatte, aber trotzdem enttäuscht war. „Um welche beiden Schüler handelte es sich dabei?“
Frau Seizinger zögerte. Es gab wegen des neuen Datenschutzgesetzes schon viele Diskussionen. Durfte sie die Namen der beiden Jungs herausgeben, auch wenn die Polizei danach fragte? Sie hatte bereits die Klassenliste übergeben, was sicher auch ein Fehler gewesen war.
„Wir bekommen die Namen so und so heraus, darauf können Sie sich verlassen“, drängelte Leo, der die Bedenken der Frau ahnte und nichts auf dieses in seinen Augen völlig überzogene Datenschutzgesetz gab.
„Adrian Neuwirth und Bernd Schmidt“, sagte Frau Seizinger und wusste jetzt schon, dass das noch riesigen Ärger gab. „Sie sollten wissen, dass Adrians Vater Rechtsanwalt und Bernds Mutter Biologin und dazu noch angehende Politikerin ist.“
„Und? Was wollen Sie uns damit sagen?“ Leo und Hans waren völlig unbeeindruckt. Die beiden scherten sich nicht darum, wer oder was jemand war.
„Die beiden reagieren sehr empfindlich, wenn es um ihre Sprösslinge geht.“ Frau Seizinger hätte sich auf die Zunge beißen können, dass sie jetzt auch das noch ausgeplaudert hatte. Würde diese Bemerkung irgendwann auf sie zurückfallen? Sie wusste, wie mit indiskreten Äußerungen von Seiten des Rektors und des Lehrerkollegiums umgegangen wurde und ahnte auch hier nichts Gutes. Trotzdem hatte sie immer noch den Anschiss Belzigs im Ohr, den sie sich hatte anhören müssen, nachdem er mit Herrn Neuwirth und Frau Schmidt-Niersmann eine lautstarke Auseinandersetzung gehabt hatte.
„Waren die beiden Schüler heute hier?“
„Ja. Sie sind befreundet und sitzen nebeneinander.“
Leo stutzte und sah die Lehrerin an.
„Lassen Sie mich raten: Mit mindestens einem von den beiden haben wir vorhin gesprochen.“
Frau Seizinger nickte nur. Sie hatte beschlossen, jetzt nichts mehr dazu zu sagen, um den Ärger in Grenzen zu halten. Aber sie ahnte, dass es dafür jetzt zu spät war. Es würde nicht lange dauern, und der Rektor Belzig würde davon erfahren.

Leo und Hans hatten nach den beiden Jungs gesucht, sie aber nicht gefunden. Es war tatsächlich so, dass die beiden sofort abgehauen waren, nachdem Frau Seizinger alle Schüler in die Pause verabschiedet hatte, obwohl beide noch Unterricht gehabt hätten.
„Dann sprechen wir später mit den Jungs. Ich schlage vor, dass wir sie gemeinsam befragen.“
„In Anwesenheit der Eltern?“
„Ich nehme an, dass wir das nicht verhindern können.“

Dass es nicht mehr dazu kommen würde, ahnten beide Kriminalbeamten nicht…