0 0,00*

Produktdetails

Verlag
Francke-Buch GmbH
Francke-Buch
Erschienen
2020
Sprache
Deutsch
Seiten
361
Infos
361 Seiten
203 mm x 134 mm
ISBN
978-3-96362-125-3

Hauptbeschreibung

Der ehemalige Militärarzt Ben Garrison ist nicht gerade begeistert, als er von seinem geliebten Großvater den Leuchtturm von Hope Harbor erbt. Er will das baufällige Gebäude so schnell wie möglich loswerden, um sich anschließend in eine angesehene Arztpraxis in Ohio einzukaufen. Als tatsächlich ein Investor Interesse zeigt und dessen Abrisspläne bekannt werden, geht die Bevölkerung allerdings auf die Barrikaden.
Unter der Regie von Marci Weber, der engagierten Redakteurin des Hope Harbor Herald, soll ein alternatives Finanzkonzept erstellt werden. Wird es ihr gelingen, den sympathischen Erben Ben umzustimmen und das Wahrzeichen der Stadt zu erhalten?

Erstes Kapitel

Kapitel 1

Er hatte einen Leuchtturm geerbt?
Ben Garrison starrte den dunkelhaarigen Anwalt ungläubig an. Schließlich atmete er die salzige Meeresluft ein, die durch das offene Fenster hereindrang, und rieb sich übers Gesicht.
Das konnte doch nicht wahr sein!
So etwas würde Skip ihm nicht antun.
Das lag bestimmt an seinem Jetlag, schließlich war er Stunden unterwegs gewesen, bis er endlich an der Küste von Oregon angekommen war. Er war definitiv neben der Spur. Die häufigen Schwankungen des Luftdrucks konnten das Gehör eines Menschen beeinträchtigen. Bestimmt hatte er sich verhört.
Er war diese Reise angetreten, um Abschied zu nehmen und sich ein paar Wochen zu entspannen. Von einem Leuchtturm war nie die Rede gewesen.
Er nahm seine Kaffeetasse und ließ den Blick, den man aus dem Fenster hatte, auf sich wirken. Normalerweise hatte die friedliche Kulisse der schaukelnden Boote im geschützten Hafen von Hope Harbor eine beruhigende Wirkung auf ihn.
Heute war davon jedoch nichts zu spüren.
Er holte tief Luft und konzentrierte sich wieder auf den Mann, der ihm gegenübersaß. »Sagen Sie mir bitte, dass ich Sie falsch verstanden habe und Sie nicht Leuchtturm gesagt haben.«
»Tut mir leid.« Eric Nash faltete die Hände auf dem runden Besprechungstisch und verzog mitfühlend das Gesicht. »Sie haben sich nicht verhört. Leider.«
Ben schloss die Augen und hatte Mühe, sich ein Stöhnen zu verkneifen.
»Ich nehme an, Ihnen war nicht bewusst, dass zum Erbe Ihres Großvaters diese … einzigartige Immobilie gehört.«
»Nein.« Ben trank einen kräftigen Schluck von seinem Kaffee und hoffte, das Koffein würde ihm helfen, klarer zu denken.
Die gewünschte Wirkung blieb jedoch aus.
Leider war dieser Kaffee nicht so stark wie das Gebräu in den Militärlazaretten in Übersee, wo er die letzten sieben Jahre verbracht hatte. Im Moment konnte er einen starken Koffeinstoß gut vertragen.
»Es ist der Leuchtturm von Hope Harbor.« Der Anwalt deutete in Richtung Norden. »Vielleicht erinnern Sie sich aus Ihren früheren Besuchen in Hope Harbor an den Turm. Ihr Großvater erzählte, dass er oft abends mit Ihnen einen Spaziergang zum Leuchtturm gemacht hat.«
Das Bild von dem 20 Meter hohen, verwitterten Leuchtturm aus dem Jahr 1872 tauchte vor Bens geistigem Auge auf. Trotz der Kopfschmerzen, die wie aus dem Nichts aufgetaucht waren, verzogen sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln.
Ja, an diese Spaziergänge erinnerte er sich noch sehr gut. Sie waren ein abendliches Ritual gewesen, als er in seiner Kindheit mehrere Jahre lang die Sommerferien bei seinem Großvater verbracht hatte. Sie waren nach dem Abendessen, egal ob der Himmel blau oder bewölkt gewesen war, immer von Skips kleinem Haus in der Stadt den gewundenen, steinigen Weg zum Leuchtturm marschiert. Die Aussicht von dort oben war atemberaubend gewesen. Und die Geschichten, die Skip erzählt hatte – von Schiffswracks und gefährlichen Wellen und dem rettenden Lichtstrahl, der die Seeleute in stürmischen Nächten sicher nach Hause geführt hatte –, hatten seine kindliche Fantasie angeregt.
Aber dieser Leuchtturm hatte seinem Großvater nicht gehört.
Seitdem er mit 16 das letzte Mal die Ferien hier verbracht hatte, waren zwanzig Jahre vergangen. Auch bei seinen Kurzbesuchen im Laufe der Jahre war der Leuchtturm nie Thema gewesen. Wie war Skip in den Besitz eines solchen Gebäudes gekommen?
»An den Leuchtturm erinnere ich mich sehr gut. Aber wa-
rum gehört er meinem Großvater?« Ben legte seine Hände um die Porzellantasse, um sich ein wenig aufzuwärmen.
»Nachdem die Küstenwache vor drei Jahren den Betrieb eingestellt hat, bot der Staat den Leuchtturm der Stadt Hope Harbor an. Aber die Renovierungs- und Instandhaltungskosten waren zu hoch. Deshalb hat die Stadt abgelehnt, den Turm zu kaufen. Schließlich wurde er versteigert.«
Ben ahnte schon, wie die Geschichte weitergegangen war. Skip hatte diesen Leuchtturm geliebt. Und alles, wofür er stand: Licht in der Dunkelheit. Orientierung bei stürmischem Gewässer. Rettung vor dem drohenden Untergang. Hoffnung für verlorene Seelen.
»Ich nehme an, mein Großvater hat das höchste Gebot abgegeben.«
»Er hat das einzige Gebot abgegeben. Der Leuchtturm war in den letzten zwei Jahren sein Baby. Für einen Leuchtturm war der Kaufpreis akzeptabel, und soweit ich es verstanden habe, war die Renovierung eine Herzensangelegenheit. Aber sie hat auch viel Geld verschlungen. Deshalb konnte er Ihnen abgesehen von dem Haus und seinen persönlichen Dingen leider nicht viel hinterlassen.«
»Auch ohne die Ausgaben für den Leuchtturm habe ich nicht erwartet, dass ich ein großes Vermögen erben würde.« Wer sein Leben damit verbracht hat, Taschenkrebse zu fangen, hat keine Reichtümer angehäuft. Das gelang höchstens den großen Fischereibetrieben. Wenn die Renovierungs- und Instandhaltungskosten für den Leuchtturm sogar für eine Stadt zu hoch waren, war es überraschend, dass ihm Skip überhaupt etwas hinterlassen hatte.
Aber was in aller Welt sollte er mit dem Turm machen?
»Der Leuchtturm befindet sich leider in keinem besonders guten Zustand, obwohl Ihr Großvater viel Arbeit hineingesteckt hat. Nachdem seine Knieprobleme einsetzten, konnte er selbst nicht mehr viel körperliche Arbeit leisten und Handwerker verlangen für solche Arbeiten viel Geld. Einige Stadtbewohner haben gelegentlich mit angepackt, aber die Renovierungsarbeiten kamen nur sehr schleppend voran.«
War der Leuchtturm möglicherweise einsturzgefährdet? Ben schob diesen Gedanken von sich. Viel mehr interessierte ihn die andere neue Information, die er soeben gehört hatte: »Welche Knieprobleme?«
Der Anwalt legte den Kopf schief. »Davon wussten Sie nichts?«
»Nein. In seinen E-Mails schrieb er immer, dass es ihm gut gehe. Wir haben nicht oft telefoniert, aber bei unseren Gesprächen war er immer gut gelaunt.«
»Vielleicht wollte er nicht, dass Sie sich Sorgen machen, da Ihr Beruf Ihnen so viel abverlangt.«
Ja. So schätzte er Skip auch ein. Sein Großvater hatte gewusst, dass Militärärzte, die nahe an der Front arbeiten, unter großem Stress stehen und dass ihr Leben von Adrenalin und Tempo bestimmt wird. Darüber hatten sie oft gesprochen. Außerdem war Ned Garrison nie der Typ gewesen, der andere Menschen mit seinen Problemen belasten wollte.
Aber Ben war schließlich sein Enkel. Familie.
Und er verdankte Skip so viel. Was wäre wohl ohne jene Sommerwochen bei seinem Großvater aus ihm geworden? Nach der schmerzhaften Scheidung seiner Eltern waren sie sein einziger Lichtblick gewesen.
Für den Mann, der damals seine Rettung gewesen war, hätte er alles getan.
Ben trank einen weiteren Schluck von dem Kaffee, der nur noch lauwarm war. Er musste Zeit gewinnen, um seine aufgewühlten Gefühle in den Griff zu bekommen. »Erzählen Sie mir bitte von seinen Knieproblemen.«
»Ihr Großvater hat sich nie lange mit unerfreulichen Themen aufgehalten, aber soweit ich weiß, hatte er Arthritis, ziemlich schwer sogar. Kurz nach dem Kauf des Leuchtturms hat er sich für ein neues Kniegelenk entschieden. Eine Infektion setzte ein und eine Nachoperation wurde nötig. Als diese auch nicht half, wurde eine dritte Operation vorgenommen, bei der ein Metall eingesetzt wurde. Danach war er gehbehindert und seine körperlichen Aktivitäten waren stark eingeschränkt. Im Leuchtturm konnte er nicht mehr viel machen. Deshalb beschloss er vor vier Monaten, ihn zum Verkauf anzubieten.«
»Wer hat ihn denn operiert?« Ben schob entschlossen das Kinn vor. Falls der Arzt bei seinem Großvater gemurkst hatte, würde er ihn zur Rechenschaft ziehen.
Warum hatte Skip sich nicht an ihn gewandt? Ben hatte beim Militär zwar nicht oft ein künstliches Knie eingesetzt, aber er war orthopädischer Chirurg! Er hätte sich über Skips Fall informieren und sich erkundigen können, ob der Chirurg, für den sein Großvater sich entschieden hatte, wirklich gut war.
Eric blätterte in den Papieren, die vor ihm lagen, und zog ein Blatt heraus. »Jonathan Allen in Coos Bay. Ich finde in den Unterlagen keinen Hausarzt, der Ihren Großvater behandelt hätte. Wahrscheinlich hat er das Gleiche gemacht wie die meisten Stadtbewohner und ist direkt in die Notfallpraxis der Stadt gegangen, wenn er ein gesundheitliches Problem hatte. Vielleicht hat man ihm dort Dr. Allen empfohlen.«
»Danke.« Ben notierte sich den Namen des Arztes. Er hatte die Absicht, diesen Dr. Allen aufzusuchen und Einsicht in die Krankenakte seines Großvaters zu nehmen.
Aber es war unwahrscheinlich, dass die Knieoperation in Zusammenhang mit dem Herzinfarkt gestanden hatte, der ihn das Leben gekostet hatte.
Er schluckte den Kloß in seiner Kehle hinunter und sprach ein anderes Thema an. »Wenn mein Großvater den Leuchtturm zum Verkauf angeboten, aber keinen Käufer gefunden hat, schließe ich daraus, dass die Stadt ihn immer noch nicht kaufen will.«
»So ist es. Einige Bewohner versuchten, die Stadt dafür zu interessieren, aber ihre Bemühungen verliefen im Sande. Selbst wenn das Gebäude in einem erstklassigen Zustand wäre, gibt es in Oregon sehr viele Leuchttürme, von denen viele imposanter sind als unserer. Es ist deshalb nicht so, dass der Turm Touristen anlocken würde und die Wirtschaft der Stadt davon profitieren könnte.«
Dieser Logik hatte er nichts entgegenzusetzen. Und er konnte der Stadt auch keinen Vorwurf daraus machen, dass sie von einem Kauf absah.
»Ich muss also einen privaten Käufer finden.«
»Wenn Sie es schaffen.« Der Anwalt klang nicht besonders zuversichtlich. »Ihr Großvater hat einen Immobilienmakler beauftragt, aber ich glaube nicht, dass es viele Anfragen gab.«
Natürlich nicht.
Das wäre ja auch zu einfach gewesen.
»Ich werde hinfahren und ihn mir ansehen, wenn ich alles für den Trauergottesdienst geregelt habe. Gibt es in der Stadt jemanden, der ein Baugutachten erstellen könnte?«
»Meine Frau ist Architektin und hat eine Baufirma.« Eric stand auf und holte eine Visitenkarte aus einer Schreibtischschublade. »Sie hat sich den Leuchtturm angesehen, bevor ihn Ihr Großvater gekauft hat. Sie hat ihm damals ihre Einschätzung gesagt. Es macht ihr bestimmt nichts aus, noch einmal hinzufahren und ein neues Gutachten zu erstellen.« Er setzte sich wieder und reichte Ben die Visitenkarte.
»Danke.« Ben steckte sie ein. »Gibt es noch mehr Punkte, die wir besprechen müssen?«
»Nein. Das Grundstück und das Haus Ihres Großvaters sind hypothekenfrei. Die Eigentumsrechte auf Sie zu übertragen, ist kein Problem. Sie haben die Schlüssel zu seinem Haus und Auto. Die Papiere sind unterschrieben. Damit ist für Sie alles erledigt.« Eric schob ihm einen Umschlag hin. »Das ist der Schlüssel für den Leuchtturm.«
Für den Bruchteil einer Sekunde zögerte Ben.
Aber die Wahrheit ließ sich nicht leugnen.
Er war Eigentümer eines Leuchtturms.
Den offenbar niemand wollte.
Auch er nicht.
Mit einem resignierten Seufzen nahm er den Umschlag entgegen und erhob sich.
Eric stand ebenfalls auf und hielt ihm die Hand hin. »Noch einmal mein herzliches Beileid. Ihr Großvater war ein wunderbarer Mann. Er wird in dieser Stadt sehr vermisst werden.«
»Danke.« Er erwiderte den festen Händedruck des Anwalts.
»Wenn ich Ihnen noch irgendwie helfen kann, solange Sie hier sind, lassen Sie es mich bitte wissen.«
»Vielen Dank. Aber ich habe nicht vor, lange zu bleiben.« Wenigstens war dies sein Plan gewesen, bis er erfahren hatte, dass er einen Leuchtturm geerbt hatte. »Danke, dass wir unseren Termin um einige Stunden verschieben konnten.«
»Kein Problem. Ich weiß, wie schwer es sein kann, Termine einzuhalten, wenn man auf Flugpläne angewiesen ist. Bei der großen Entfernung, die Sie heute zurückgelegt haben, müssen Sie doch völlig kaputt sein.«
»Das kann man so sagen.« Er konnte selbst kaum glauben, dass er vor 36 Stunden noch im Nahen Osten gewesen war und seitdem nicht geschlafen hatte. »Ich werde mich im Haus meines Großvaters ein wenig schlafen legen.«
»Das klingt sehr vernünftig. Das Myrtle Café hat geöffnet, falls Sie vorher noch etwas essen wollen. Oder Sie könnten bei Charley im Hafen vorbeifahren. Vielleicht sind Sie als Kind mit Ihrem Großvater bei ihm gewesen.«
»Ja, oft sogar.« Bei dem Gedanken an Charleys köstliche Fischtacos lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Ein Besuch bei Charleys Taco-Stand war während seines Aufenthalts in Hope Harbor auf jeden Fall Bestandteil seines Plans. Aber zuerst musste er ein wenig Schlaf bekommen. Den brauchte er im Moment nötiger als Essen.
Der Anwalt begleitete ihn zur Tür. Ben trat in den leichten Nieselregen hinaus, der im April so typisch für die Küste Oregons war. Und auch in jedem anderen Monat.
Er steckte die Papiere, die ihm der Anwalt gegeben hatte, in seine Jacke, um sie vor dem Regen zu schützen, und entriegelte den Mietwagen mit der Fernbedienung.
15 Sekunden später steckte er den Schlüssel ins Zündschloss und legte die Hände aufs Lenkrad.
Sollte er zum Pelican Point hinauffahren und Skips verrücktem Erbe einen schnellen Besuch abstatten oder sollte er diese unerfreuliche Aufgabe für später aufschieben?
Die Antwort war eindeutig.
Später.
Ihm fielen schon fast die Augen zu und der Leuchtturm würde ihm nicht davonlaufen.
Leider.
Er wartete eine Lücke im Straßenverkehr ab und bog dann auf den Dockside Drive. Vielleicht bekam er ja doch wie die Propheten im Alten Testament im Traum eine Lösung für sein Dilemma.
Und wenn nicht?
Er würde alles tun, um einen Käufer für sein unerwartetes – und ungewolltes – Erbe zu finden.





Als es plötzlich an ihrer Haustür klingelte, zuckten Marci Webers Finger auf der Zahnpastatube so sehr zusammen, dass ein minzgrüner Strahl auf ihren Badezimmerspiegel spritzte.
Wer konnte so spät noch vor ihrer Tür stehen? Nach acht Uhr abends kam in Hope Harbor niemand mehr zu Besuch. Und schon gar nicht um Viertel nach zehn.
Mit rasendem Puls legte sie die Tube auf den Waschbeckenrand und ignorierte die gewellte Zahnpastaspur, die sich über die Armatur zog und im Waschbecken zusammenlief.
Die feuchten Handflächen rieb sie sich an ihrem Nachthemd ab. Dann schlich sie aus dem Badezimmer durch den Flur in ihr dunkles Schlafzimmer, wo sie an den Rand des Fensters trat und in die Nacht hinausspähte.
Vergeblich.
Das winzige Bogendach über ihrer kleinen Veranda versperrte ihr trotz der Nachtbeleuchtung den Blick auf die Haustür.
Bei dem Gedanken, nach unten zu gehen, um besser sehen zu können, verstärkte sich das ungute Grummeln in ihrem Bauch noch.
Das war aufgrund ihrer früheren Erfahrungen nicht überraschend.
Es klingelte erneut. Sie musste etwas unternehmen. Hastig eilte sie zu ihrem Nachttisch, holte das Pfefferspray aus der Schublade und nahm ihr Handy aus der Ladestation, um sofort die Polizei anrufen zu können, während sie zum Fenster zurückschlich und spürte, wie ihr Herz heftig schlug.
Atme, Marci. Du bist in Hope Harbor. Hier passiert normalerweise nichts Schlimmes. Der Teenager, der sich letztes Jahr einen Spaß daraus gemacht hat, das Eigentum fremder Menschen zu zerstören, wurde gefasst und seitdem gab es keine ernsthaften Zwischenfälle mehr. Du reagierst über.
Das stimmte.
Trotzdem verkrampfte sich ihr Griff um das Handy, während sie darauf wartete, dass ihr nächtlicher Besucher die Veranda verließ und wieder verschwand.
Falls ihr ungebetener Gast womöglich doch etwas Unerfreuliches im Schilde führte, hatte sie ein erstklassiges Alarmsystem, das bereits für die Nacht aktiviert war. Die Polizei von Hope Harbor wäre binnen weniger Minuten hier und mit ihrem Pfefferspray konnte sie jeden Eindringling abwehren.
Ihr würde nichts passieren.
Trotzdem fragte sie sich: Warum konnte Großtante Edith nicht mitten in der Stadt wohnen? Wieso musste sie sich ausgerechnet ein Haus am Stadtrand kaufen? Das Häuschen am Pelican Point war zwar reizvoll, aber das alte Sprichwort hatte trotzdem seine Berechtigung:
Gemeinsam ist man stärker als allein.



Was sollte er mit der Katze machen, die auf dem Baum festsaß, wenn niemand die Tür öffnete?
Ben stemmte die Fäuste in die Seiten und runzelte die Stirn. Im ersten Stockwerk brannte Licht. Es musste also jemand zu Hause sein.
Andererseits war es schon ziemlich spät. Nach seinen eigenen Maßstäben zwar vielleicht nicht, aber soweit er sich erinnerte, ging man in Hope Harbor unter der Woche spätestens um zehn Uhr schlafen. Wahrscheinlich wollten die Hausbewohner gerade zu Bett gehen.
Das wäre für ihn selbst auch besser, als in der Dunkelheit herumzulaufen.
Aber nach seinem Gespräch mit dem Anwalt hatte er vier Stunden in Skips Gästezimmer tief und fest geschlafen und war jetzt zu aufgedreht, um schlafen zu können. Jetzt war sein innerer Rhythmus endgültig durcheinander.
Die nächtliche Wanderung auf dem steinigen Weg zum Leuchtturm hatte einen Teil seiner Ruhelosigkeit vertrieben, aber wenn er gewusst hätte, dass auf der kurvigen Pelican Point Road eine Katze auf dem Baum festsaß, wäre er auf dem gefährlicheren Weg über die Klippen nach Hause gegangen.
Es hatte keinen Sinn, auf Hilfe von den Bewohnern dieses typischen Küstenhäuschens zu hoffen, und so verließ er mit einem verärgerten Seufzen die Veranda.
Ein mitleiderregendes Miauen begrüßte ihn, als er um das Haus herum zu dem Baum ging und das Licht seiner Taschenlampe auf die Katze richtete, die ihn mit bernsteinfarbenen Augen anschaute.
Wenn die Katze keine blutende Pfote hätte, würde er einfach weitergehen. Katzen kamen vielleicht leichter auf einen Baum hinauf als wieder nach unten, aber normalerweise trieb sie der Hunger, sich selbst zu helfen.
Außer sie waren verletzt oder hatten Angst.
Und auf die Katze, die mit mitleiderregender Miene in diesem Baum saß, traf beides zu.
Ben betrachtete den Stamm des Hartholzbaumes, der unten keine Äste hatte. Er konnte also unmöglich hochklettern. Außerdem würde er der Katze damit womöglich noch mehr Angst einjagen.
Er konnte die Feuerwehr alarmieren. Aber wer die freiwillige Feuerwehr um diese nächtliche Stunde alarmierte, um eine Katze aus einem Baum zu retten, machte sich in dieser Stadt bestimmt keine Freunde.
Ratlos blickte er sich im Garten um. In dem verwitterten Gartenschuppen würde er vielleicht ein paar brauchbare Geräte finden.
Er ging auf Hütte zu und legte die Hand auf den Griff. Sie war unverschlossen.
Er machte die Taschenlampe an und bewegte den Lichtstrahl durch den Raum. Eine zwei Meter hohe Leiter. Ein Besen. Eine Schnur.
Das könnte helfen.
Er zog seinen Strickpullover aus, wickelte ihn um die Borsten des Besens und befestigte ihn daran mit der Schnur. Dann schulterte er die Leiter und kehrte zu dem Baum zurück.
»Durchhalten, Kätzchen! Ich hole dich vom Baum und verarzte deine verletzte Pfote«, sagte er in einem beruhigenden Tonfall, während er die Leiter an den Baum lehnte. Diesen Tonfall hatte er bei verletzten, verängstigten Kindern benutzt, die er behandelt hatte und die nur seinen Tonfall, aber nicht seine Sprache verstanden hatten. Diese Kinder waren Opfer eines grausamen Krieges geworden, der vor niemandem haltmachte.
Nachdem er getestet hatte, ob ihn die Leiter trug, kletterte er bis zur zweithöchsten Sprosse hinauf, hob den Besen über seinen Kopf und stupste die Katze mit dem Besen, den er mit seinem Pullover ausgepolstert hatte, vorsichtig an. Die Katze schwankte ein wenig und umklammerte den Pullover, um sich festzuhalten.
Ben ahmte die Rettungstechnik nach, die er bei einem Freund gesehen hatte, und bewegte den Besen langsam vom Baum weg. Die Katze krallte sich zunächst nur mit den Vorderpfoten an dem Pullover fest. Als der Abstand zwischen Baum und Besen immer breiter wurde, umklammerte das Tier den Pullover mit allen vier Pfoten.
Als das Tier sich am Besten festkrallte, ließ Ben den Besenstiel durch seine Finger nach unten gleiten und packte die Katze sanft am Nacken. Er ließ den Besen fallen, hielt die Katze in seiner Armbeuge und kletterte vorsichtig Sprosse für Sprosse von der Leiter.
Als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, drehte er sich um. In diesem Moment wurde er von einem grellen Licht-strahl geblendet.
»Was soll das?« Er ließ die Katze los und hob die Hand, um seine Augen vor dem grellen Licht abzuschirmen.
Offenbar gefiel der Katze das plötzliche Licht genauso wenig wie ihm. Mit einem durch Mark und Bein gehenden Kreischen fuhr sie mit ihren Krallen über seinen Unterarm, riss sich von ihm los, sprang auf die Erde und verschwand in der Dunkelheit.
»Halten Sie Ihre Hände so, dass ich sie sehen kann, während ich mit Ihnen spreche. Ich bin Officer Jim Gleason von der Polizei in Hope Harbor«, hörte er eine Stimme aus der Dunkelheit.
Ben kniff wegen des grellen Lichts die Augen zusammen und sah, wie eine Blutspur über seinen Unterarm lief. Er kam sich vor, als wäre er im falschen Film.
Wie hatte so schnell so viel schieflaufen können?
Seit dem Moment, in dem er die Nachricht bekommen hatte, dass Skip gestorben war, hatte er gewusst, dass diese Fahrt schwer werden würde. Aber seine ersten acht Stunden in Hope Harbor übertrafen seine kühnsten Befürchtungen noch.
Es war schon genug, dass er einen Leuchtturm geerbt hatte. Nun war er noch von einer Katze verletzt worden und ins Visier der Polizei geraten.
Dieser Aufenthalt in Hope Harbor nahm immer groteskere Züge an.



»Seine Geschichte stimmt, Marci. Wir können ihn wegen unbefugten Betretens Ihres Grundstücks belangen, wenn Sie wollen, aber …« Officer Gleason zuckte mit den Schultern.
Er brauchte seinen Satz nicht zu beenden. Sie wusste auch so, was er dachte.
Aber es wäre ziemlich gemein, einen Mann anzuzeigen, der in die Stadt gekommen ist, um seinen Großvater zu beerdigen, und der verletzt wurde, als er ein hilfloses Tier retten wollte.
Marci hatte sich im Schatten der Haustür verschanzt und warf einen Blick auf den großen, schlanken Mann in ihrem Garten.
Wie erstarrt stand er im Licht der Laternen da und hatte einen zerrissenen Pullover in der Hand. Sein dunkles Haar glänzte vom Nieselregen, der hier am Pelican Point typisch war. Obwohl sie seine Gesichtszüge nicht genau sah, war seine Blässe nicht zu verkennen.
Das Gesicht des Mannes war genauso weiß und angespannt wie ihres. Wie ein Übeltäter sah er ganz und gar nicht aus. Eher wie jemand, der in einem Alptraum gefangen war.
»Was soll ich machen, Marci?« Der Polizist stellte seinen Jackenkragen auf, da der Nieselregen stärker wurde.
Sie zögerte. Wenn die Geschichte stimmte, die der Mann erzählt hatte, war er eher ein Katzenretter als ein Einbrecher.
»Sind Sie sicher, dass seine Angaben stimmen?«
»Ich habe seinen Personalausweis überprüft und Eric hat bestätigt, dass er heute Nachmittag bei ihm in der Kanzlei war. Außerdem hat er einen frischen Kratzer am Arm. Ich habe die Katze zwar nur kurz gesehen, bevor sie in der Dunkelheit verschwand, aber ich habe sie kreischen gehört. Das alles belegt seine Geschichte.«
Ja, das stimmte. Annabelle saß alle paar Tage auf diesem Baum und kam nicht mehr runter. Marci hatte die Katze selbst mehrmals aus ähnlichen Situationen gerettet, bis sie irgendwann begriffen hatte, dass Mrs Schroeders Katze trotz ihrer mitleiderregenden Hilferufe sehr wohl in der Lage war, selbst vom Baum zu kommen.
Aber der Fremde in ihrem Garten konnte das schließlich nicht wissen.
»Okay. Lassen Sie ihn gehen. Es tut mir leid, dass ich Ihnen solche Umstände gemacht habe.«
»Kein Problem. Dafür sind wir da.« Er tippte an seinen Hut. »Ich sage ihm, dass er gehen kann.«
Der Polizist wollte sich schon abwenden, aber Marci hielt ihn am Arm fest. »Hat er gesagt, warum er so spät abends hier oben ist?«
»Ja. Er leidet unter Jetlag und konnte nicht schlafen. Deshalb ist er spazieren gegangen. Er kommt aus dem Nahen Osten und ist heute mit dem Flieger hier angekommen. Können Sie sich vorstellen, wie viele Zeitzonen er durchquert hat?«
Sie fügte die Informationen zusammen.
Naher Osten.
Beerdigung seines Großvaters.
Mitleid mit einem verletzten Tier.
Ohne den Mann, der immer noch Abstand hielt, aus den Augen zu lassen, senkte Marci die Stimme und beugte sich zu Jim. »Ist das etwa der Enkelsohn von Ned Garrison?«
»Ja.«
Ihr Magen zog sich zusammen.
Sie hatte die Polizei auf den Militärarzt angesetzt, den Ned immer in den höchsten Tönen gelobt hatte. Den Arzt, der jahrelang an der Front gedient und tapfere Soldatinnen und Soldaten wieder zusammengeflickt hatte und dem man Tapferkeitsmedaillen verliehen hatte.
Major Ben Garrison verdiente etwas Besseres als den Empfang, den sie ihm bereitet hatte.
»Ich, ähm, denke, ich muss mich bei ihm entschuldigen.«
Jim warf einen zweifelnden Blick auf den Mann. »Vielleicht sollten Sie damit lieber warten. Ich glaube, er hat heute genug durchgemacht und verkraftet nicht noch mehr. Und wenn er noch lange hier stehen bleibt, ist er völlig durchnässt. Ich bringe ihn zurück zu Neds Haus.«
Marci biss sich auf die Unterlippe. Jim hatte wahrscheinlich recht, der Zeitpunkt war ungünstig. Aber wenn sie es nicht wenigstens versuchen konnte, sich bei diesem Mann zu entschuldigen, würde sie heute Nacht kein Auge zumachen.
»Ich halte ihn nicht lange auf.« Sie schob sich an dem Polizisten vorbei. »Geben Sie mir eine Minute.«
Die schemenhafte Gestalt am Rand des Lichtkegels erstarrte, als sie auf ihn zutrat. Sie verlangsamte ihre Schritte.
Mach es einfach, Marci. Sag, dass es dir leidtut. Dann quält dich dein Gewissen nicht die ganze Nacht.
Richtig.
Sie warf die Schultern zurück, beschleunigte ihre Schritte und blieb kurz vor dem Mann stehen. »Ich möchte mich für die Unannehmlichkeiten entschuldigen, die Sie meinetwegen hatten. Ich wohne allein hier und ich bekomme um diese Uhrzeit normalerweise keinen Besuch. Officer Gleason hat mir erklärt, was passiert ist.«
»Sie erstatten keine Anzeige?«
»Nein.«
»Wenigstens ein Lichtblick an diesem Tag.«
Müdigkeit und ein Anflug von Sarkasmus schwangen in seinen Worten mit.
Jim hatte mit seiner Warnung recht gehabt. Dieser Mann war nicht in der Stimmung, sich zu unterhalten.
Höchste Zeit, den Rückzug anzutreten.
»Dann lasse ich Sie lieber nach Hause gehen, bevor der Regen noch stärker wird.« Sie drehte sich um.
»Für den Fall, dass es Sie interessiert: Die Katze war verletzt.«
Marcis Magen reagierte erneut. Sie drehte sich wieder um.
Ben Garrison hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Auch wenn es in dem schwachen Licht schwer war, seine Miene zu deuten, aber seinen Worten entnahm sie eine gewisse Kritik.
»Was ist denn passiert?«
»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ihre Pfote geblutet hat. Haben Sie sie denn nicht jammern gehört?«
»Ich habe sie miauen gehört. Annabelle klettert oft auf diesen Baum. Und sie kommt immer selbst wieder nach unten. Woher hätte ich wissen sollen, dass sie verletzt ist?«
»Hätte es geschadet, wenn Sie nachgesehen hätten?«
»Ich gehe nachts nicht raus.«
»Und Sie gehen auch nicht an die Tür, wenn es klingelt.«
»Fremden öffne ich nicht.«
»Sie hätten oben ans Fenster gehen und mit mir sprechen können. Dann hätte ich Ihnen erklärt, was ich wollte, und uns beiden wäre einiges erspart geblieben.«
Das stimmte. Rückblickend musste sie zugeben, dass sie die Situation falsch eingeschätzt hatte. Aber warum musste er so darauf herumreiten? Sie hatte sich doch entschuldigt. Was wollte er noch? Sie konnte das, was geschehen war, nicht ungeschehen machen.
»Ich habe doch gesagt, dass es mir leidtut. Mehr kann ich im Moment nicht tun.«
»Ist es Ihre Katze?«
»Nein. Sie gehört meiner Nachbarin. Und ich gehe davon aus, dass ihre verletzte Pfote inzwischen liebevoll versorgt wird.«
»Haben Sie vor, sich zu vergewissern, dass es wirklich so ist?«
Wofür hielt dieser Mann sie? Für eine herzlose Tierhasserin?
Sie schaute ihn finster an. »Ich werde meine Nachbarin anrufen, sobald Sie fort sind.«
»Gut.«
Mann!
Dieser Kerl war ganz schön aggressiv.
Sie drehte sich auf dem Absatz um und stapfte ins Haus zurück.
Als sie an dem Polizisten vorbeikam, zuckte er mit den Achseln, als wollte er sagen: »Ich habe Sie gewarnt«, bevor er zu seinem Streifenwagen ging, der in ihrer Einfahrt stand.
Vielleicht wäre es wirklich klüger gewesen, mit ihrer Entschuldigung einen oder zwei Tage zu warten.
Aber sie hatte in den letzten Jahren gelernt, wie wichtig es war, den Mund aufzumachen, statt den Kopf einzuziehen und zu warten, bis es zu spät war. Den Stier bei den Hörnern packen, das war bei Schwierigkeiten der beste Weg.
Aber nicht in jeder Situation musste man sofort handeln. Wenn man zu schnell war, konnte man damit auch Probleme heraufbeschwören.
Der heutige Abend war ein Beweis dafür. Aber daran konnte sie jetzt nichts mehr ändern. Mit einem leisen Schnauben ging sie die zwei Stufen zu ihrer Veranda hoch.
Sie hörte, wie hinter ihr Autotüren zufielen und ein Motor angelassen wurde. Als sie die Haustür hinter sich schloss und einen Blick durchs Fenster warf, verschwanden die roten Schlusslichter bereits auf der Straße.
Gott sei Dank war dieser unangenehme Zwischenfall vorbei. Sie brauchte jetzt nur noch Mrs Schroeder anzurufen und sich zu vergewissern, dass mit Annabelle alles in Ordnung war.
Marci betätigte das Bolzenschloss, schob den Riegel vor die Haustür, schaltete die Alarmanlage wieder ein und ging nach oben.
Was für eine Nacht!
Sie hatte geplant, für den Hope Harbor Herald eine Geschichte über Ned zu schreiben und sie mit Zitaten von seinem geliebten Enkel auszuschmücken.
Das konnte sie nach diesem Vorfall wahrscheinlich vergessen.